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Neue Zürcher Zeitung - 11.06.2008
Fallstudie eines geisteskranken Künstlers
Uraufführung der Oper «Melancholia» von Georg Friedrich Haas und Jon Fosse in Paris

Zum Abschluss der Saison zeigt die Pariser Nationaloper in der Bastille «Melancholia», das jüngste Werk des Österreichers Georg Friedrich Haas. In der hochstehenden Aufführung zeigt das auf einem Text von Jon Fosse basierende Werk viel klanglichen Reiz.


Der neurotische Künstler mag eine zeitlose Erscheinung sein, den geisteskranken gibt es jedoch erst in der bürgerlichen Gesellschaft. Die umfangreiche Liste reicht von Hölderlin über Schumann bis zu Robert Walser und Adolf Wölfli. Deren Schaffen überlebte, doch als Menschen scheiterten sie im Problemdreieck von gesellschaftlicher Norm, individueller Reizbarkeit und künstlerischer Kreativität.

Harmonisch gedacht

Mit seinem Künstlerroman «Melancholia» hat der norwegische Autor Jon Fosse dieser Liste illustrer Namen einen hierzulande kaum bekannten hinzugefügt: den des geisteskranken Landschaftsmalers Lars Hertervig, eines norwegischen Quäkersohns, der 1902 im Armenhaus starb und dessen Bilder erst nach seinem Tod Anerkennung fanden. Der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas hat aus dem Stoff eine Oper in drei Teilen komponiert, die nun als französisch-norwegische Koproduktion in der Pariser Bastille-Oper zur Uraufführung kam. Dass der theatererprobte Buchautor selbst das Libretto verfasste, ist ein glücklicher Umstand, der zum erfolgreichen Gelingen des Projekts zweifellos wesentlich beigetragen hat.

Die Handlung der Oper beschränkt sich auf den ersten Teil des Buches, der in Düsseldorf spielt, wo Hertervig an der Kunstakademie studierte und von wo er nach kurzer Zeit als «Versager» wieder in seine Heimat zurückkehrt. Man ist Zeuge, wie die Hauptfigur, der psychisch labile Lars, durch seine Umwelt als Person systematisch zerstört wird. Seine Malerkollegen verspotten ihn, sein Vermieter wirft ihn aus der Wohnung, da er sich unglücklicherweise in die fünfzehnjährige Tochter des Hauses verliebt hat. Die einzige Sicherheit, die ihm bleibt, ist sein inneres Wissen: Ich kann malen, und Helene liebt mich. Damit macht er sich auf den Weg nach Hause und in die gesellschaftliche Isolation.

Die deprimierende Geschichte kommt bei Haas zu einer konzentrierten und sinnfälligen Darstellung. Im Zentrum befindet sich die Hauptfigur Lars. Die Rolle verkörperte Otto Katzameier sowohl in der Bühnenpräsenz als auch in der Gestaltung der ausschweifend langen, expressiven Ariosopartien mit phänomenaler Konzentration. Ihr gegenüber steht das feindliche Kollektiv in Form eines Solistenchores (souverän: das Vokalensemble Nova). Es verkörpert die anonyme Öffentlichkeit, die ihm Unfähigkeit attestiert, und seine Malerkollegen, die ihn wegen seiner Verliebtheit verhöhnen.

Aus dem Chor treten fallweise die kleineren, aber musikalisch nicht minder anspruchsvollen Figuren hervor: Herr und Frau Winckelmann, die Vermieter (Johannes Schmidt und Ruth Weber), die zynischen Malerkollegen Alfred und Bodom und die Kellnerin als Gegenfigur zur kindlich reinen Helene. Mit Daniel Gloger, Martyn Hill und Annette Elster waren sie vorzüglich besetzt. Zwischen Chor und Hauptfigur steht Helene, der Melanie Walz prägnante Konturen verlieh: als eine Erscheinung, die sphinxhaft zwischen kindlicher Geliebter und distanzierter Muse schwankt.

Chor und Solopartien sind eingebettet in einen Instrumentalklang, der trotz einer Besetzung von nur fünfundzwanzig Spielern orchestrale Dimensionen besitzt und den das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomárico zu grossen Klangtableaus, aber auch zu dramatischen Höhepunkten ausweitete.

Die Klangfülle hat zweifellos mit dem ausgeprägten harmonischen Denken des Komponisten zu tun. Haas hat die spektrale Harmonik hier auch in dramaturgisch unterschiedlicher Form eingesetzt. Die den Künstler bedrohende Aussenwelt ist durch quasi-tonale, konsonante Akkordik charakterisiert, die hart und klar wirkt und zugleich das konventionelle Denken der Widersacher blosslegen soll, die verschlossene Innenwelt hingegen durch sehr differenzierte, irrationale Obertonverhältnisse. Diese hochdifferenzierte Klanglichkeit wird vor allem durch die Streicher realisiert, die neben ihrem normal gestimmten Instrument noch ein zweites, speziell gestimmtes zur Verfügung haben. Darüber hinaus gelingt es Haas, das Geschehen durch prägnante Wechsel in der klanglichen Textur sehr übersichtlich zu gliedern.

Fast wie im Traum

Die Inszenierung, Produkt einer beeindruckenden Zusammenarbeit zwischen Stanislas Nordey (Regie), Emmanuel Clolus (Bühne), Raoul Fernandez (Kostüme) und Philippe Bethomé (Licht), fand für das Geschehen ein symbolstarkes Bild: Die leere Bühne und die Kostüme des Chors sind in Schwarztönen gehalten, während in der Mitte ein weisses Segel aufgespannt ist: Sinnbild einer imaginären Leinwand. Von der allgemeinen Düsternis heben sich nur die weissen Kostüme von Lars und Helene ab. Die Figuren bewegen sich langsam, fast wie im Traum, Körperkontakt findet kaum je statt – das Drama wird konsequent durch das innere Auge der Hauptfigur gesehen.

Wenn die konzentrierte, formal abgerundete psychologische Fallstudie trotzdem einen Eindruck des Episodischen hinterlässt, so deshalb, weil nur die Voraussetzungen dieser Künstlermelancholie, aber nicht ihre künstlerischen Folgen zur Sprache kommen. Das ist der noch anstössigere Aspekt dieser Krankengeschichte: Der in die Geisteskrankheit Getriebene wird ein zweites Mal um seine Existenz betrogen, indem sein Werk erst nach seinem Tod zur Kenntnis genommen wird. Aber das wäre wohl das Thema einer anderen Oper.


Max Nyffeler






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