Süddeutsche Zeitung - 24.10.2008
Kuscheln zur Unglücksvermeidung
Das Unfassbare ist spielbar: Meg Stuart, Gisèle Vienne und die Zagreber Performancegruppe BADco beim Steirischen Herbst in Graz.
"Strategien zur Unglücksvermeidung" steht auf den Plakaten, die in der
Grazer Innenstadt für den Steirischen Herbst werben, jenes Festival,
das wie kein zweites alle Kunstsparten unter einem Dach versammelt.
Dieses Jahr hat der "Herbst", wie die Einheimischen ihre fast einen
Monat währende Kunstanstrengung kurz und bündig nennen, mit seinem
Motto derart ins Schwarze getroffen, dass man den Machern hellsichtige
Fähigkeiten zuschreiben möchte. Eigentlich kann man ja nichts falsch
machen, wenn man in Zeiten der Turbomoderne alle am Festival
Beteiligten nach ihren ganz persönlichen Rezepten zur Vermeidung von
Kollateralschäden befragt. Dass mitten ins Festivalgetriebe dann
allerdings die Nachrichten vom Finanzcrash und von Jörg Haiders
nächtlicher Todesfahrt platzen würden, konnte niemand voraussehen.
Dabei hätte das Festival selbst so etwas wie eine Grazer
Rückversicherung nötig. Immerhin versucht es souverän, ohne die
üblichen Strategien der Koproduktion auszukommen, mit denen die
europäische Kulturlandschaft sich in der Regel gegenseitig beschickt.
Festivalchefin Veronika Kaub-Hasler legt großen Wert auf eigene
Produktionen wie das Stück "All Together Now" von Meg Stuart und
Damaged Good, das letztes Wochenende zur Uraufführung kam. Man betrat
eine Halle, die von außen riesig aussieht, landete aber zunächst einmal
in der klaustrophobischen Enge eines Zimmers.
Die 75 Zuschauer,
die sich hier hineinquetschen, werden mit einem Text von Tim Etchells
entschädigt, der die Sensation des erotischen Körperkontakts feiert.
Dann öffnet sich eine kleine Tür und die Meisterin der
choreographierten Körper- und Raumerkundung wartet mit der zweiten
Zumutung auf. Plötzlich fühlt man zwar die Weite der Halle, tastet sich
aber stolpernd in völliger Dunkelheit voran und begegnet anderen
"Zuschauern", bis in der Dämmerung eines raffinierten Lichtdesigns doch
die Umrisse des großen Raums auszumachen sind.
Eine Torte für alle
So grandios die Eröffnung des Abends ist, so unverbindlich und ungefähr
geht es weiter. Meg Stuart inszeniert marodierende Tänzer, die rauen
Körperkontakt mit zufällig verteilten Zuschauern suchen. Allmählich
entwickelt sich das Ganze in Richtung einer kuscheligen Strategie der
Unglücksvermeidung. Die Zuschauer sollen mittanzen, im Kreis sitzen und
mit der immer gleichen Gabel von einer alle verbindenden Sachertorte
naschen, bevor sie schnöden Mammon in die Halle schleudern.
Zinsbewussten Kleinanlegern ist diese Kunstform der Peanuts-Entsorgung
auf keinen Fall zu empfehlen. Irgendwann ist allerdings auch das
vorbei, und die Karawane zieht weiter zur nächsten Premiere in den
durch ein Tunnelsystem derart ausgehöhlten Schlossberg, dass er selbst
wie eine Überraschungstorte wirkt.
Das gilt vor allem für den
großen Veranstaltungsraum im Fels, der ein Pharaonengrab sein könnte,
wäre dieser "Dom im Berg" nicht Spielort des Steirischen Herbstes und
hätte die kollaborative Zagreber Performancegruppe BADco dort nicht
einen Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Industrialisierung und
des Films platziert. "1 poor and one 0" startet mit den ersten bewegten
Bildern der Geschichte. Arbeiter verlassen die Lumière-Werke, und es
ist eine schöne Fügung, dass der erste Filmstreifen gleichzeitig ein
Dokument der Industrialisierung ist. Im Gegensatz zu Meg Stuarts
performativem Zufallsgenerator muss man sich die kollaborative
Performance wie eine essayistische Reflexion über die stoische Bewegung
im Zuge der Mechanisierung von Arbeit unter besonderer Berücksichtigung
der Filmgeschichte vorstellen.
Tänzerisch ist das überzeugend,
alles in allem bebildern die Zagreber ihr Thema aber eher, als dass sie
es künstlerisch hinterfragen - ganz im Gegensatz zur französischen
Theatermacherin Gisèle Vienne, die mit "Jerk" auf den Spuren des
literarischen Grenzgängers Dennis Cooper wandelt. Mit dieser Premiere
war man im Joanneum angelangt, das eigentlich die zentralen
Ausstellungsräume des Steirischen Landesmuseums beherbergt. Im Zuge
einer bevorstehenden Sanierung wurde das morbid-barocke Gebäude aber
leer geräumt. Im Moment beherbergt es nicht nur die zentrale
Kunstausstellung des "Herbstes", sondern fungiert auch als
Festivalzentrum.
Vor dem Eingang schwebt eine bizarre Kugel aus
Möbelteilen, als sei das Mobiliar des Landesmuseums nach außen
gesprengt worden. Verantwortlich für das ultimative Unglück ist das
"raumlaborberlin", das auch das Innere des Museums in einem hellen Grau
gestaltete und den aktuellen Zustand des Landesmuseums in etwa so
radikal umspielt, wie Gisèle Vienne aus Dennis Coopers Splatterfantasie
"Jerk" ein radikales Stück Theater gemacht hat. Dass "Jerk" ein
Ereignis ist, hat nicht nur mit der intelligenten Direktheit einer
Regisseurin zu tun, die eigentlich nicht darstellbare Fantasien der
Grausamkeit inszeniert, sondern auch mit dem, der ihr hier zur Seite
steht: der Bauchredner, Schau- und Puppenspieler Jonathan Capdevielle,
der eine Rekonstruktion der Morde des homophilen Dean Corll vorstellt,
die der Serienkiller in den 70er Jahren in Texas zusammen mit zwei
Jugendlichen verübte.
Capdevielle spielt einen dieser
Jugendlichen als einen seltsam scheuen Jungen, für den die
Grausamkeiten Corlls zunehmend an Attraktion gewinnen. Er spielt mit
Puppen aber auch all die anderen Figuren aus Coopers Erzählung und wird
im zweiten Teil des Abends, wenn es um die brutale Beschreibung des
Mordens geht, zur versteinerten Sphinx, aus der das Unfassbare spricht.
So gut kann Theater sein, wenn es sich der schonungslosen Durchdringung
eines Themas stellt, von dem man meint, es sei auf der Bühne gar nicht
darstellbar.
Zum Ende des Steirischen Herbstes gibt es an
diesem Wochenende noch die Uraufführung dreier Kurzstücke von Ivana
Sajko, Lukas Bärfuss und Johannes Schrettle sowie die Uraufführung der
Oper "Melancholia" von Georg Friederich Haas - nach einem Libretto, das
Jon Fosse auf Grundlage seines gleichnamigen Romans geschrieben hat.
Sich in die Melancholie zu begeben, ist ja vielleicht auch eine
Strategie zur Unglücksvermeidung.
Jürgen Berger