Falter - 10.10.2008
Die groben Unterschiede
Die ersten szenischen Produktionen im steirischen herbst stellen das gängige Theaterbild auf den Kopf.
Zuletzt hat einer der Grazer Theatermenschen gesagt: "Der Florian
Malzacher hasst ja das Theater." Das wird jetzt nicht autorisiert. Weiß
angeblich eh jeder. Nur stimmt's nicht. Oder besser: Es stimmt nur
dann, wenn man eine sehr bestimmte Vorstellung von Theater hat.
Offenkundig ist allerdings, dass sich der steirische herbst unter
Veronica Kaup-Hasler und ihrem umtriebigen Dramaturgen hartnäckig allen
Bühnenkonventionen (inklusive dem sogenannten Regietheater) verweigert.
Um szenische Kunst konsequent und mit jeder Produktion neu zu
buchstabieren. Klingt eindrucksvoll. Ist aber genau genommen eine
Selbstverständlichkeit. Denn wozu, bitte, ist der herbst sonst da? Ganz
unabhängig davon, welche Vorstellung von Theater eine Vorstellung
bestimmt, geht es Abend für Abend nicht nur um die Frage, was Theater
sein kann, sondern vor allem auch darum, was Theater kann. Der
steirische herbst hat da mit seinen drei ersten szenischen Kostproben
auch sehr unterschiedliche Ergebnisse geliefert.
In "Bonanza",
einer Arbeit des belgischen Kollektivs "Berlin" (Bart Baele, Yves
Degryse und Caroline Rochlitz), trifft eine Videoinstallation auf das
3-D-Modell des beschriebenen Orts: Bonanza, die kleinste Stadt im
US-Bundesstaat Colorado, hat gezählte fünf oder sieben Einwohner (das
wissen die selbst nicht so genau). Unter Videoinstallation sind fünf
Bildschirme zu verstehen, die, parallel bespielt, meist die fünf
aktiven Haushalte zeigen, unter 3-D-Modell eine in liebevoller
Handarbeit gebastelte Landschaft à la Märklin. Ohne Eisenbahn, versteht
sich. Denn in Bonanza hält kein Zug. Und die nächste Tankstelle ist so
weit entfernt, dass ein voller Tank auf dem Weg dorthin bereits wieder
halb leer gefahren wird. Die ausgestorbene Ex-Goldgräberstadt ist der
Arsch der Welt. Und das ist nicht nur eine Lokalisierung, sondern - so
das Ergebnis des spannenden Abends - auch eine Zustandsbeschreibung.
"Berlin" gehen in ihrer Arbeit (einem Teil der Städteporträt-Reihe
"Holocone", in deren Rahmen bereits Jerusalem und die Hauptstadt der
Inuits in Nord-Kanada päsentiert wurden) von einem dokumentarischen
Blick aus und landen bei einer Geschichte, die kein Dramatiker schöner
komponieren hätte können: Die Idylle der Einsamen entpuppt sich als die
Hölle einer verschlossenen Gesellschaft, in der esoterische
Aquarellisten-Rhetorik auf Intrigen und Rechtsanwaltsbriefe trifft. Mit
sparsamen Mitteln filmischen Spannungsaufbaus und mit Szenen, die in
vermeintlich objektiven Dokus nie Platz finden würden, wird das Drama
des Mikrokosmos Miniaturstadt ausgebreitet. Eine sympathisch subtile
Studie einer Stadt, die bald keine mehr sein wird.
Weit weniger
bescheiden präsentiert sich "Bleib. Opus #3", eine Inszenierung Michael
Schweizers. Der französische Regisseur stellt mit dem Philosophen
Dany-Robert Dufour und dem Psychoanalytiker Jean-Pierre Lebrun zwei (in
Frankreich) sehr populäre Denker und Lacan-Spezialisten auf die Bühne
und lässt sie debattieren. Nicht nur über Gott und die Welt. Den
szenischen Hintergrund zu launisch erörterten Fragen wie "Was ist der
Mensch?" bilden fünf gut dressierte Schäferhunde, als thematischer
Background dient das Weltwirtschaftsforum 2001 in Davos.
Intellektueller Angelpunkt des Abends ist die Frage nach der
quasireligiösen Funktionalität des freien Markts in einer Gesellschaft
von Rudeltieren, sprich: der Neoliberalismus als Dressur. Mag sein,
dass es an den eingeblendeten Übersetzungen liegt, die sich nicht immer
mit dem in Zusammenhang bringen lassen, was die beiden Denker zum Thema
extemporieren - jedenfalls scheint es so, als stünde die intellektuelle
Auseinandersetzung gar nicht im Zentrum der Inszenierung. Die
statischen Bilder und bedeutungverheißenden Musikeinspielungen, die
symbolschwer exerzierten Einlagen der Hunde (mit ihren Hundeführern),
die emotional angelegten Auftritte eines ehemaligen Fremdenlegionärs
und die beiden - sagen wir es ruhig - recht eitlen Intellektuellen, die
sich ähnlich den Hunden vorm Publikum zum Affen machen. Das alles
wirkt, als wollte Schweizer ein großformatiges Bild entwerfen von
ja,
wovon eigentlich? Von der Doppelbödigkeit einer Inszenierung, die sich
selbst und voller Absicht viel zu ernst nimmt? Vom Menschen an sich,
der noch im Stadium postmodern geschulter Selbstreflexion nur ein mehr
oder weniger begabtes Zirkustier bleibt? In Summe versammelt Schweizer
eine Vielzahl großer Gesten und wenig überraschender Überraschungen,
die sich in einem Vexierspiel der Bezugspunkte verfangen und dabei
immer wieder in die Sackgasse einer letztlich hohlen Bedeutsamkeit
führen.
Schon mal was von Body Mind Centering gehört? Eben. Mit
Eszter Salamons Choreografie "Dance #1/Driftwork" landet der steirische
herbst jedenfalls wieder auf einem ganz anderen Planeten. Die
ungarische Choreografin hat gemeinsam mit ihrer belgischen Kollegin
Christine De Smedt eine Zwei-Frauen-Performance gestaltet, die den Dom
im Berg füllt, ganz ohne sich um Schönheit, Größe, Eitelkeit oder
avancierte ästhetische Statements zu kümmern. In bedrückend langsam
gesteigerten Bewegungsläufen bieten Salamon und De Smedt anfangs
getanzte Minimal-Music: Aufbauend auf einem den Abend quasi
durchzitternden Rhythmusteppich entsteht eine Folge von langsam
mutierenden Körperwendungen, die immer wieder zu Bildern, zu Haltungen
gelangt, die vertraut erscheinen, sich dann aber bis ins Absurde hinein
steigern, mutieren. Doch dabei bleibt es nicht. Unvermittelt stolpern
die Tänzerinnen in eine theatralische Interaktion, geben Ton, schieben
brockenweise Komik, Karikaturen und Karatespiele über die Bühne,
balancieren über einen Verzweiflungsabgrund und probieren sich im
Raubtiergebrüll, um schließlich bei einer frommen Tom-Waits-Imitation
zu landen. Ganz abgesehen von der eindrucksvollen körperlichen
Kleinarbeit fasziniert "Dance #1" aufgrund der Unbekümmertheit, mit der
Salamon sich, ihre Bühnenpartnerin und ihre Kunst dem Publikum
präsentiert. Die Choreografin dreht einfach ihr Ding und überlässt dem
Zuschauer, was er davon ernst nimmt. Und was nicht.
Hermann Götz