Falter - 15.10.2008
Vom Tanzen nach dem Crash
Die Ausnahmechoreografin Meg Stuart über Kulte, Todesrituale und die Konstruktion der Welt
Wenn diesen Donnerstag die Premiere von Meg Stuarts neuer Arbeit „All Together Now” in der
Helmut-List-Halle
über die Bühne geht, dann kann man das auch als so etwas wie eine
alternative Eröffnung des steirischen herbst lesen. Denn eigentlich war
die Choreografin und Tänzerin, die wie kaum eine andere den
zeitgenössischen Tanz der letzten beiden Jahrzehnte geprägt hat,
gebeten worden, die Eröffnung der diesjährigen Ausgabe des Festivals zu
gestalten. Stuart hat abgelehnt, weil sie nicht den Kunstschmuck für
das Festritual abgeben wollte. Nein, den Partyclown habe sie nicht
spielen wollen, sagt die gebürtige Amerikanerin, die seit ihrem
Europa-Debüt („Disfigure Study”, 1991) in ihren oft schwierigen und
dunklen Arbeiten immer wieder die Abgründe der Existenz, den Schmerz,
die Verzweiflung zum Thema gemacht hat. Daher wird „All Together Now”
nun in intimerem Rahmen zu erleben sein - nur jeweils 75 Zuseher
treffen in der List-Halle auf die sechs Performer von Stuarts Kollektiv „Damaged Goods”.
Falter: Der Titel Ihrer Arbeit für den herbst
klingt doch ungewöhnlich fröhlich für eine Meg-Stuart-Produktion, vor
allem wenn man den Beatles-Song im Ohr hat. Was ist passiert?
Meg Stuart: Das stimmt, die Titel meiner Arbeiten haben sonst oft einen
kleinen Twist. „Maybe forever” zum Beispiel oder „It's not funny”. Ich
habe einfach gedacht, es wird Zeit, dass sich etwas verändert. Trotzdem
bleibt der Titel offen. Was heißt das schon „All Together Now”? Ein
Publikum macht gemeinsam eine Erfahrung.
Aber kein „Yellow Submarine”-Spirit, oder?
Stuart: Der Titel spielt ein wenig damit. Die Menschen im Stück sind
Träumer, Mitglieder einer sehr speziellen Gesellschaft, in gewisser
Weise eines Kults. Es geht um Bewegungen, Massenbewegungen, darum, wie
wir Gemeinschaften bilden, wie Verbindungen entstehen. Das Stück ist
offen, wir laden das Publikum dazu ein, mit uns zu tanzen - allerdings
nicht im Sinne einer aufdringlichen Publikumspartizipation. Und der
Titel bereitet ein wenig darauf vor.
Sie haben einmal gesagt,
Sie entwickeln Ihre Werke oft aus einem bestimmten Bild in Ihrem Kopf.
Welches Bild war es denn diesmal?
Stuart: Ich habe sehr viel
über Übergänge nachgedacht, über Initiationsriten und Feste, vor allem
darüber, wie wir den Tod feiern. Über das Loslassen, wenn Dinge enden.
Auch dieser riesige leere Raum der List-Halle hat eine Rolle gespielt.
Wir haben in der Vorbereitung oft in der Dunkelheit meditiert,
überlegt, was es bedeutet, in absoluter Finsternis, in Angst zu
existieren.
Das klingt jetzt wieder deutlich weniger fröhlich ...
Stuart: Nein, positiv! Es macht Spaß! Ich will nicht zu viel vom Stück
verraten, aber schon der Beginn wird extrem aufgeladen sein. Und danach
tritt das Publikum in die Leere der Halle ...
Das erinnert an
ein anderes Bild, das Sie verwenden: Don DeLillos Buch „Falling Man”,
das sich auf die Fotos von Menschen bezieht, die aus dem World Trade
Center sprangen.
Stuart: Genau.
Interessiert Sie daran auch die Katastrophe?
Stuart: Nein, nicht in dieser Arbeit. Im Allgemeinen schon, mich
interessiert, wie wir uns von Ereignissen zu erholen versuchen, wie
sich Körper nach einem Unfall regenerieren, also im weiteren Sinn für
posttraumatische Zustände. In „All Together Now” geht es mir aber mehr
um die Konstruktion und Organisation der Welt - durch Rituale - auch um
soziale Tänze, im Ansatz sogar um Volkstanzen. Nicht nur um gesunde,
sondern auch um ungesunde Rituale. Sich am Wochenende einfach
volllaufen zu lassen etwa. Letztlich um Zeit, die uns heilig ist.
Was meinen Sie mit „heiliger Zeit”?
Stuart: Wir alle haben manchmal das Verlangen, aus dem Alltag
herauszutreten - einfach die Telefone abschalten, sich eine Performance
ansehen, laufen gehen, reisen. Das sind kostbare, auch kontemplative
Momente, die wir vom Alltag abgrenzen. Mir kommt vor, viele Menschen
plagt ein Gefühl der Unzufriedenheit, von Erschöpfung und Müdigkeit.
Daraus entsteht das Bedürfnis, den Stress zu reduzieren, andererseits
aber auch intensiver zu erleben, seine eigenen Grenzen wieder
auszutesten, mehr Befriedigung zu erfahren, mehr Gefühle, Beziehungen.
9/11, Naturkatastrophen, der Finanzcrash: Lässt sich die Welt überhaupt noch organisieren?
Stuart: Für die meisten Ereignisse kann man sich nicht rüsten. Wir
reagieren zunächst mit Angst, Untätigkeit oder Hilflosigkeit. Nach der
Katastrophe geht es dann darum, wie wir uns neu formieren. Und der
Finanzmarkt - wir leben in verrückten Zeiten! Es gibt im Stück eine
Szene, in der ein Körper mit Münzen überhäuft wird. Ein seltsames
Zusammenfallen mit der Realität.
Wie entstehen Ihre Arbeiten? Arbeiten Sie mit Texten?
Stuart: Ich versuche alles auf einmal zu machen. Mircea Eliades Buch „Das Heilige und das Profane” hat eine Rolle gespielt, genauso wie der
kreative Austausch aller Mitwirkenden. Es ist ein sehr intensiver
Prozess, der Schreiben, Drehen und Schneiden im selben Moment vereint.
In Graz kommt dazu, dass wir eine 360-Grad-Situation schaffen, es gibt
keine Bühne im klassischen Sinn. Es ähnelt eher einer Skulptur in
Bewegung. Das hat einiges an Recherche erfordert. Außerdem arbeite ich
erstmals mit einer fast obsessiv geschlossenen Gruppe von Tänzern,
nicht wie bisher mit sehr unterschiedlichen Charakteren. Dazu gibt es
schon ein Bild: das Gemälde „La Danse” von Matisse, das fünf Figuren
zeigt, die sich an den Händen halten und im Kreis tanzen.
Lässt sich so das Chaos organisieren? Oder ist „All Together Now” ironisch gemeint?
Stuart: Es gibt immer wieder Menschen, die versuchen auszusteigen, ihre
eigenen Lebensmittel zu produzieren und ihre Kinder zu Hause zu
unterrichten. Und in jeder Gruppe - einer Familie, der Fangemeinde
einer Band, einer Sekte oder einer Facebook-Group - geht es auch immer
um die Frage, wer dann mitmachen darf. Es gibt eine große Sehnsucht
nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Oft geht das schief, aber am
Anfang steht immer ein Traum, eine Hoffnung, ein verzweifeltes
Bedürfnis.
Man kann spüren, dass Sie sich nicht ganz wohl dabei fühlen, über Ihre Arbeit zu sprechen. Warum eigentlich?
Stuart: Ich will meine Arbeit nicht reduzieren, andererseits auch nicht
in eine Position kommen, in der ich sie verteidigen muss. Außerdem bin
ich mir nicht ganz sicher, ob meine Worte das Verständnis meiner
Tanzarbeiten wirklich erleichtern. Vielleicht bin ich als Tänzerin
eloquenter, aber eigentlich teile ich mich schon gerne mit. In gewisser
Weise misstraue ich der Sprache, finde, dass man über Tanz Widersprüche
besser vermitteln kann.
Was kann denn zeitgenössischer Tanz im besten Sinn leisten?
Stuart: In meinen Arbeiten geht es darum, dass sich der Körper selbst
befragt. Die Performances sind oft ungeschützt und versuchen ein Thema
oder einen Konflikt herauszuarbeiten, die durch das Live-Erleben auf
neue Weise verständlich gemacht werden. Oft begnügt sich Tanz mit
bloßen Oberflächen, hat dann etwas Glänzendes, zugleich aber sehr
Geschlossenes. Mein Tanz ist dagegen offen, ungelöst. Um Widersprüche
geht es mir, aber auch um Empfindungen, um physische Erlebnisse, darum,
dass Körper ein bestimmtes Wissen haben, auch jenseits des Denkens. Und
mich interessieren Verbindungen: wie Menschen einander wirklich
begegnen und miteinander kommunizieren können, und was diese
Interaktionen blockiert. Zum Beispiel um das Moment der Peinlichkeit,
wenn man einander an den Händen fasst und gemeinsam mit dem Publikum
einen Kreis bildet. Die Choreografie des Sozialen - das ist sicher mein
größtes Interesse.
Gibt es eigentlich andere als misslungene Kommunikationen?
Stuart: Ich glaube, unser ganzes Leben basiert auf versäumten Begegnungen. Aber das ist nicht weiter schlimm.
Thomas Wolkinger