created with wukonig.com
Frankfurter Rundschau - 13.10.2008
Ich habe mich einweisen lassen
Zu Gast bei der Performance "Komplex Nord" beim "steirischen herbst"

Am Anfang kriegt man ein Merkblatt mit Pflichten in die Hand gedrückt. Am Ende wird einem vom Doktor der Kopf gewaschen. Dazwischen liegen Stunden, in denen nichts so ist, wie es normalerweise ist. Dazwischen liegen Stunden, in denen man sich neu erfährt - oder einfach nur raus will. Dazwischen ist man Patient in einem Krankenhaus für Amnesie-Kranke.

Ich ließ mich für sechs Stunden einweisen. Andere für zwölf, vierundzwanzig Stunden oder gleich für mehrere Tage. Ich lege meine Kleider ab, auch die Unterwäsche. Beobachtet von meiner persönlichen Krankenschwester. Sie heißt Frau Roth und hat schreckliche Brillen. Ich schlüpfe in die Anstaltskleidung und stecke mir ein Namensschild an. Gellt in den folgenden sechs Stunden der Namen Weston durch die Räume und Fluren, dann bin ich gemeint.

Mitmachtheater hätte man einst zu dieser Form des Theaters gesagt, und dabei die Nase gerümpft. Das wichtigste ist das Wort Theater. Den 25 Besuchern in den Zimmern und Fluren im Johanneum in Graz wird dieses Wort schnell ausgetrieben. Das hier ist ein Krankenhaus, unser Krankheitsbild: dissoziative Störungen. An den Decken sind Kameras. Big Brother für sechs Euro Eintritt. Die Behandlung besteht aus Therapien. Dieses Krankenhaus, eine Mischung aus den Zimmern der Schwarzwaldklinik und dem Labor von Dr. Caligari, ist aufgeräumt, doch von den Möbeln blättert der Lack, die Anstaltskleidung hat Löcher, die Badewanne hat keine Wasserzufuhr.

Eine Besucherin, die schon länger da ist, hat es sich darin gemütlich gemacht. Sie ist nackt, und blickt die Neuankömmlinge herausfordernd an. Ist sie eine Schauspielerin? Mein Vorsatz Nummer eins: Auf der Hut sein. Nichts von mir preisgeben. Und schon gar nicht in der Vorstellungsrunde mit Ball und im kleinen Kreis. Nur: Was erzählt man dann? Zu den Pflichten der Besucher gehört unumschränkte Kooperation.

In einer ihrer früheren Installationen hat das dänisch-österreichische Künstlerduo Signa (Signa Soerensen und Arthur Köstler) in die Bretter-Stadt Ruby-Town geladen. Auch in Graz wird einem eine Geschichte präsentiert: Das Krankenhaus ist Teil des Staates "The State", der vor 40 Jahren gegründet wurde, und der unverkennbar Züge eines faschistischen Regimes trägt. Es gibt vier Ärzte, einige Schwestern, zwei Latino-Mädels als Küchenpersonal. Man ist Teil eines sozialen Experiments. Und das dreht sich in erster Linie um einen selbst.

Angenehm ist das nicht. Vor allem wenn ich nach dem Essen zur Chefärztin Dorine Chaikin (Signa Soerensen) zitiert werde. Man habe mich beobachtet. Ich verhielte mich asozial. Die Stimme von Dr. Chaikin ist eisig, und ich kann mir noch so oft sagen, dass das Theater sei. Vorsatz Nummer zwei: Ich werde mich bessern.

Gelegenheit dazu habe ich in der Zorn-Therapie. Wir schreien, wir werfen die Hände in die Luft, wir stülpen uns Masken übers Gesicht. Ich verweigere mich. Man nennt mich passiv aggressiv. Aber ich bin doch Teil einer Inszenierung. "Vergiss die Metaebene", sagt die Kollegin neben mir.

Ich habe sie nicht vergessen. Aber sie ist in immer weitere Ferne gerückt. Was Realität ist und was gespielt, wer Schauspieler, wer Besucher, ob ich gerade Westin bin oder jener Typ, der mit einer Eintrittskarte hierhergekommen ist, ob die Krankenschwester mit mir als Person oder in ihrer Rolle flirtet, das ist nicht zu entschlüsseln. Er sei entäuscht von mir, sagt mein Doktor zum Abschied.

Ich habe einige der intensivsten und verwirrendsten Kunst-Stunden meines Lebens erlebt. Ich habe ein schlechtes Gewissen.


Stephan Hilpold






Bitte installieren Sie den Flash Player 9.
Sie können Ihn kostenlos unter folgender Adresse herunterladen: http://www.adobe.com/go/getflashplayer/