created with wukonig.com
www.nachtkritik.de - 04.10.2008
Und noch mal in die offen-herzige geschlossene Anstalt


"Du glaubst also immer noch, dass Dein Beruf mit Schreiben zu tun hat?" Fast traurig sagt das jene imaginäre Krankenschwester, die mich am Vortag um rosa Unterwäsche gebeten hat. Sorry, ich bin wohl behandlungsresistent. Als mir in der elften Stunde meines Stationsaufenthalts unvorsichtigerweise das Wort "Schauspieler" entschlüpft, wird eine andere Schwester richtig grantig und es heißt fast: Zurück an den Start! 

Zweiter Aufenthalt in der spiel-offenen geschlossenen Anstalt? Der neue Kollege im Nachbarbett hat ein wenig gemotzt, als er die altmodische Unterhose hätte anziehen sollen, es dann aber doch getan. Die Belegung der Station war deutlich besser (diesmal: halbvoll). Bei mehr Publikum wird's logischerweise bunter. Die Mehrheit verhält sich abwartend, zurückhaltend oder leise-neugierig. Andere betätigen sich spontan und lustvoll als Amateur-Mitspieler (eine junge Dame hat eine unsichtbare Zwillingsschwester erfunden, die auch umhätschelt sein will).


Schiffchen in der Kartoffelsuppe

Einer mimt den Autisten und schaut, was passiert. Und ganz Mutige üben aktiven Widerstand. Insider-Tipp: Trauen Sie dem Patienten Bela Hirsch nicht. Er liegt, wenn er nicht gerade marodes Mobiliar repariert, meist lesend im Bett, aber er beobachtet die Szene genau (es ist Signa-Mitglied Arthur Köstler). Ein wenig mehr Herausforderung also für die vier "Doktoren", für die kleine Armee der beflissenen "Schwestern" und die beiden Argentinas in der Küche.

Ganztätig ameisenfleißiges Wald- und Wiesen-Psychologisieren in den drei riesengroßen, schäbigen Schlaf-/Wohn-/Behandlungssälen und den Nebenräumen. Das haben wir ja schon geschildert. Ich versuche, ein wenig mehr zu erfragen vom Staat, in dem sich diese Spezialklinik für Menschen mit Gedächtnisschwund eigentlich befindet. Groß ist er und weitläufig: 3,9 Milliarden Einwohner. Österreich ist eine Region davon, China auch. Wahlen gibt es dort nicht, nur eine Partei. Ein Bild vom Präsidenten hängt an der Wand. Gäbe es für Erster-Klassepatienten Bier zum schlichten Essen? Tagsüber kein Alkohol, verlangt der Staat. Monogamie ist als Lebensform vorgeschrieben.

Schwestern erzählen davon, dass sie für alles, was sie brauchen, endlos Ansuchen schreiben müssen. Das Essen scheint knapp zu sein, jedenfalls tritt einmal Frau Doktor Dorine Chaikin (Signa Sørensen) vehement in Erscheinung und führt das Werk einer Patientin vor: Sie hat das Morgenlied ("Ein Schiff wird kommen") wörtlich genommen und ein Papierschiffchen in die Nudel-Kartoffelsuppe gesetzt. Das sollte nicht sein, lernen wir.


Behandlungsziel: Hunger 

In anderen Punkten ist der Staat aber mehr als großzügig: Die Patienten müssen die Zigaretten zwar abgeben, dürfen aber dann doch jederzeit rauchen, und auch Ärzte und Schwestern pofeln an Krankenbetten ebenso wie bei Tisch. Einmal kommt einer der Doktoren an mein Bett und erklärt mir, dass eines der Behandlungsziele sei, mich hungrig darauf zu machen, wieder für den Staat da zu sein. Das stimmt mich misstrauisch, so wie das dauerberieselnde Bildungsprogramm auf den immer eingeschalteten Antik-Fernsehern. Im klinischen Alltag ist der "Komplex Nord" alles in allem wenig aufregend. Psychologiestudenten fortgeschrittener Semester, Kindergärtnerinnen und Hausfrauen mit Vorliebe zu Selbsterfahrungskursen werden wohl mehr als zufrieden sein.

"Die konstruierte Wirklichkeit entlarvt nach und nach Tabus von Krankheit, Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Machtstrukturen." So heißt es im Programmheft des "steirischen herbst". Dafür geht's viel zu kommod her. Die liebevolle Retro-Ausstattung im Stil der Nachkriegsjahre (Signa Sørensen und Thomas Bo Nilsson) wirkt mehr putzig als bedrohlich. Sie trägt eigentlich dazu bei, dass man Assoziationen an mögliche Wirklichkeiten allzu leicht wegschieben kann. Das ist kontraproduktiv.


Wuselnde Klischeefiguren 

Überhaupt: Das scheinbare Eingesperrt-Sein würde nur dann Beklemmung erwecken, wenn beständig an der Emotions-Schraube gedreht würde, wenn jeder Besucher ein wenig leiden müsste. Aber gerade das erspart "Signa" sich selbst und dem Publikum. Damit wird die Idee letztlich marginalisiert. Zwischen den Krankenbetten wuseln Klischeefiguren. Das "Drehbuch" ist genau festgelegt.

Die Hackordnung der "Schwestern" zu beobachten macht anfangs durchaus Spaß. Aber muss man sich für so was den "Komplex Nord" wirklich antun? Sechs Euro Eintritt – das klingt nach Schnäppchen für wahlweise 6, 12, 18 oder 24 Stunden. Das Preis-Leistungsverhältnis kann man aber auch anders sehen: So viel Zeit-Investment für so wenig künstlerischen Ertrag oder gar gesellschaftspolitische Erkenntnis, ein mittelmäßiges Animationsprogramm letztlich zu Festspielpreisen!


Reinhard Kriechbaum






Bitte installieren Sie den Flash Player 9.
Sie können Ihn kostenlos unter folgender Adresse herunterladen: http://www.adobe.com/go/getflashplayer/