Zweiter Aufenthalt in der spiel-offenen geschlossenen Anstalt? Der
neue Kollege im Nachbarbett hat ein wenig gemotzt, als er die
altmodische Unterhose hätte anziehen sollen, es dann aber doch getan.
Die Belegung der Station war deutlich besser (diesmal: halbvoll). Bei
mehr Publikum wird's logischerweise bunter. Die Mehrheit verhält sich
abwartend, zurückhaltend oder leise-neugierig. Andere betätigen sich
spontan und lustvoll als Amateur-Mitspieler (eine junge Dame hat eine
unsichtbare Zwillingsschwester erfunden, die auch umhätschelt sein
will).
Schiffchen in der Kartoffelsuppe
Einer mimt den Autisten und schaut, was passiert. Und ganz Mutige üben aktiven Widerstand. Insider-Tipp: Trauen Sie dem Patienten Bela Hirsch nicht. Er liegt, wenn er nicht gerade marodes Mobiliar repariert, meist lesend im Bett, aber er beobachtet die Szene genau (es ist Signa-Mitglied Arthur Köstler). Ein wenig mehr Herausforderung also für die vier "Doktoren", für die kleine Armee der beflissenen "Schwestern" und die beiden Argentinas in der Küche.
Ganztätig ameisenfleißiges Wald- und Wiesen-Psychologisieren in den drei riesengroßen, schäbigen Schlaf-/Wohn-/Behandlungssälen und den Nebenräumen. Das haben wir ja schon geschildert. Ich versuche, ein wenig mehr zu erfragen vom Staat, in dem sich diese Spezialklinik für Menschen mit Gedächtnisschwund eigentlich befindet. Groß ist er und weitläufig: 3,9 Milliarden Einwohner. Österreich ist eine Region davon, China auch. Wahlen gibt es dort nicht, nur eine Partei. Ein Bild vom Präsidenten hängt an der Wand. Gäbe es für Erster-Klassepatienten Bier zum schlichten Essen? Tagsüber kein Alkohol, verlangt der Staat. Monogamie ist als Lebensform vorgeschrieben.
Schwestern erzählen davon, dass sie für alles, was sie brauchen, endlos
Ansuchen schreiben müssen. Das Essen scheint knapp zu sein, jedenfalls
tritt einmal Frau Doktor Dorine Chaikin (Signa Sørensen) vehement in
Erscheinung und führt das Werk einer Patientin vor: Sie hat das
Morgenlied ("Ein Schiff wird kommen") wörtlich genommen und ein
Papierschiffchen in die Nudel-Kartoffelsuppe gesetzt. Das sollte nicht
sein, lernen wir.
Behandlungsziel: Hunger
In anderen Punkten ist der Staat aber mehr als großzügig: Die Patienten müssen die Zigaretten zwar abgeben, dürfen aber dann doch jederzeit rauchen, und auch Ärzte und Schwestern pofeln an Krankenbetten ebenso wie bei Tisch. Einmal kommt einer der Doktoren an mein Bett und erklärt mir, dass eines der Behandlungsziele sei, mich hungrig darauf zu machen, wieder für den Staat da zu sein. Das stimmt mich misstrauisch, so wie das dauerberieselnde Bildungsprogramm auf den immer eingeschalteten Antik-Fernsehern. Im klinischen Alltag ist der "Komplex Nord" alles in allem wenig aufregend. Psychologiestudenten fortgeschrittener Semester, Kindergärtnerinnen und Hausfrauen mit Vorliebe zu Selbsterfahrungskursen werden wohl mehr als zufrieden sein.
"Die konstruierte Wirklichkeit entlarvt nach und nach Tabus von
Krankheit, Verletzlichkeit, Abhängigkeit, Machtstrukturen." So heißt es
im Programmheft des "steirischen herbst". Dafür geht's viel zu kommod
her. Die liebevolle Retro-Ausstattung im Stil der Nachkriegsjahre
(Signa Sørensen und Thomas Bo Nilsson) wirkt mehr putzig als
bedrohlich. Sie trägt eigentlich dazu bei, dass man Assoziationen an
mögliche Wirklichkeiten allzu leicht wegschieben kann. Das ist
kontraproduktiv.
Wuselnde Klischeefiguren
Überhaupt: Das scheinbare Eingesperrt-Sein würde nur dann Beklemmung erwecken, wenn beständig an der Emotions-Schraube gedreht würde, wenn jeder Besucher ein wenig leiden müsste. Aber gerade das erspart "Signa" sich selbst und dem Publikum. Damit wird die Idee letztlich marginalisiert. Zwischen den Krankenbetten wuseln Klischeefiguren. Das "Drehbuch" ist genau festgelegt.
Die Hackordnung der "Schwestern" zu beobachten macht anfangs durchaus Spaß. Aber muss man sich für so was den "Komplex Nord" wirklich antun? Sechs Euro Eintritt – das klingt nach Schnäppchen für wahlweise 6, 12, 18 oder 24 Stunden. Das Preis-Leistungsverhältnis kann man aber auch anders sehen: So viel Zeit-Investment für so wenig künstlerischen Ertrag oder gar gesellschaftspolitische Erkenntnis, ein mittelmäßiges Animationsprogramm letztlich zu Festspielpreisen!