Falter - 22.10.2008
Die (un)heimliche Sensation
"Jerk": Puppentheater als verstörendes Splatter-Movie
Die wahren Sensationen kommen beim steirischen herbst durch die
Hintertür. Selten wurde das so deutlich wie bei der als
"Soloperformance für einen Puppenspieler" angekündigten Produktion
"Jerk". Das Stück der jungen französischen Regisseurin Gisèle Vienne
ist verwirrend, fragil, verstörend: ein kleiner Höhepunkt im
herbst-Programm 2008.
Ein gewisser Jonathan Capdevielle startet
sein scheinbar wenig professionelles Spiel verlegen kichernd, als wäre
ihm das Thema des Abends ganz persönlich unangenehm. Es geht um
Lustmorde, Nekrophilie, absurde Grauslichkeiten aus dem Hirn des
US-Poeten Dennis Cooper, die Capdevielle mit Kinderstofftierpuppen
vorträgt. Komisch? Nein. Eher seltsam. Der offen zur Schau gestellte
Dilettantismus des Darstellers und Ich-Erzählers stört die
traditionelle Balance der Theatersituation empfindlich, verbreitet
Unbehagen. Umso mehr, als sich der Mann ins Zeug haut, dass im der
Schweiß von der Stirn und der Sabber aus dem Mund tropft. Hat der Typ
womöglich wirklich ein Problem?
Mit den Barrieren der
Professionalität fallen in dieser Darstellung auch die Sicherheiten,
die das Theater sonst mit sich bringt, fällt die Distanz. Das hier ist
nicht Theater. Das hier ist eher Splatter-Movie live. Die Puppen
verlieren ihre Stofftiergesichter und zeigen graue Gesichter,
bluttriefende Mundwinkel, die Sache wird irgendwie
ernst. Schließlich
starrt Mr. Capdevielle nur mehr ins Publikum, seltsam weggetreten oder
konzentriert - und spricht weiter, ohne dabei den Mund zu bewegen.
Andernorts mehr oder weniger billige Akrobatik, wird die Bauchrede hier
zum dramaturgischen Höhepunkt einer entfesselten Darstellung von
Unsagbarem: Am Ende bleibt der Mund verschlossen, aber im Inneren
verborgen stammeln die Stimmen des Stücks für alle hörbar weiter. Als
wollten sie einen nach dem Applaus nach Hause begleiten.
Hermann Götz