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Profil - 29.09.2008
Zweites Leben
Die dänisch-österreichische Performance-Gruppe signa baut für ihre Reality-Shows ganze Dörfer nach. Jetzt betreibt sie beim steirischen herbst ein falsches Krankenhaus:

Die Zuschauer können bis zu zehn Tage in der psychiatrischen Theateranstalt leben.

Das Publikum mit wohlpositionierten Überraschungen bei Laune zu halten gehört zu den gängigsten Theatertricks. Diesmal dürfte die Verblüffung aber selbst bei versierten Theatergehern groß sein: Wer sich ein Ticket für die Uraufführung der "Komplex-Nord-Methode" beim heurigen steirischen herbst gekauft hat, wird am Eingang aufgefordert werden, sich splitternackt auszuziehen.

Das schwarze Eisengitter beim Stiegenaufgang fällt hinter den Zusehern ins Schloss: Sie müssen als Patienten in eine psychiatrische Anstalt einchecken. Persönliche Gegenstände wie Armbanduhren, Bücher oder Handys müssen beim Krankenhauspersonal abgegeben werden. Jeder Besucher erhält eine neue Unterhose und einen Patientenkittel. Die Diagnose fällt dramatisch aus: Amnesie, totaler Gedächtnisschwund.

"Kunst muss nicht angenehm sein", meint Arthur Köstler, 36, auf die Frage, warum Theatergeher sich freiwillig in eine geschlossene Anstalt, noch dazu eine so schäbige, einweisen lassen sollten. Gemeinsam mit Kollegin Signa Sørensen, 33, hat der Gmundner Performance-Künstler den "Komplex-Nord" eingerichtet: mit alten Metallbetten, dünnen Matratzen, vergilbten Stellagen und schneeweißen Laken.

Die Vorstellung startet am 3. Oktober und dauert zehn Tage: Wer will, kann 240 Stunden im "Komplex-Nord" verbringen, sechs Stunden beträgt die Mindestaufenthaltsdauer. Um Mitternacht beginnen die Krankenschwestern, die Zuseher zu Bett zu bringen. Sie weisen ihre Patienten an, sich die Zähne zu putzen, versüßen ihnen das Einschlafen mit Gutenachtgeschichten, Keksen und einem Glas Milch. Einmal im "Komplex-Nord" aufgenommen, wird man bis zur Entmündigung betreut.

Über 20 derartige hypernaturalistische Theaterwelten errichtete die Dänin Signa Sørensen in leer stehenden Hallen, Männergefängnissen und Fabriken bereits, seit 2004 arbeitet ihr Ehemann Arthur Köstler an den Nonstopinstallationen gleichberechtigt mit: Zusammen sind die beiden signa, das vielleicht unheimlichste Performance-Paar der Theaterbranche.

Die verstörende Idee, eine detailgetreue Kopie der Welt anzulegen, um die Fiktion anschließend als Realität auszugeben, trug signa im vergangenen Frühjahr eine Einladung zum renommierten Berliner Theatertreffen ein: Für "Die Erscheinungen der Martha Rubin" hatten sie eine Siedlung aus 25 Häusern aufgebaut. Das Potemkin'sche Dorf erwies sich als Publikumsmagnet: Um an einem der Öffnungstermine Einlass zu bekommen, nahmen die Besucher mehrstündige Wartezeiten in Kauf.

Machtspiel. Rund 40 Darsteller bevölkerten die Modellstadt, schliefen in ärmlichen Häusern und arbeiteten in Geschäften - einem Bonbonladen beispielsweise, einem Friseursalon oder einer Peepshow. Soldaten patrouillierten durch die Straßen und kontrollierten Bewohner wie Besucher. Menschen verschwanden aus der Stadt, ohne dass man Näheres darüber erfuhr. "Das Gefühl stellte sich ein, vor einer totalen Katastrophe zu stehen", urteilte ein Kritiker des Branchenblattes "Theater der Zeit".

"Den klassischen Formen des Mitmachtheaters stehe ich skeptisch gegenüber. Ich empfinde das als unangenehm", bekennt Veronica Kaup-Hasler, die Intendantin des steirischen herbstes. "Aber in diesem Fall ist es anders. Man wird nicht auf die Bühne geholt, sondern betritt eine Welt, in der man sofort eine Rolle spielt."

Manipuliert werden die Zuseher dennoch: Trickreich steuern Sørensen und Köstler das Geschehen. Doch im Unterschied zu Container-Formaten wie der Reality-Show "Big Brother" sieht dem Machtspiel niemand am TV-Schirm zu, auch geht es nicht um billigen Profit. "Container-Shows haben mich stark beeinflusst", erklärt Sørensen. Mit signa hat sie das erfolgreiche TV-Format von dessen Zynismus befreit.

Sørensens erklärtes Ziel: Die Kunst soll ihre Künstlichkeit verlieren. In "The Secret Girl" (2004) kippten Realität und Illusion einen krankhaften Moment lang tatsächlich ineinander: Ein Besucher wollte angesichts des Geschehens die Polizei holen. "Signa spielte eine Hure, an der ein Kollege und ich Experimente durchführten", erzählt Köstler. "Das war eine brutale Show in bedrückender Atmosphäre."

Zwar lebt Theater seit je von dem Widerspruch, Dinge ernst zu nehmen, von denen man weiß, dass sie nicht stimmen können. Sørensen und Köstler aber treiben dieses Paradoxon auf die Spitze und erfüllen damit eine alte Sehnsucht ausgerechnet des bürgerlichen Theaters: die Herstellung der totalen Illusion. Sogar zu Sex kommt es an den Abenden regelmäßig. "Allerdings bitten wir Schauspieler, die es ein bisschen darauf anlegen, sich zurückzuhalten", so Sørensen.

Folgende Regeln sind einzuhalten: 1. Schauspieler dürfen zu keinem Zeitpunkt aus ihrer Rolle treten. - 2. Schauspieler dürfen trinken, aber nicht betrunken sein. - 3. Cannabis oder andere Drogen sind verboten. - 4. Schauspieler dürfen keine Zuschauer schlagen und auch untereinander nur handgreiflich werden, wenn es vorher verabredet wurde. - 5. Theaterohrfeigen sind ausgeschlossen.

Die Idee zu ihrer ersten Performance hatte Sørensen 2001. Die Kopenhagener Kunststudentin hatte als Abschlussarbeit eine klassische Installation aufgebaut. "Ich war extrem unzufrieden", erinnert sie sich. "Man baut etwas auf, dann geht man und überlässt es sich selbst. Es gibt keinen Dialog. Da beschloss ich, künftig selbst Teil meiner Installationen zu sein."

Erfahrungen mit Rollenspielen hatte sie bereits: Um sich ihr Studium zu finanzieren, hatte Sørensen in Nachtclubs als Stripperin gearbeitet. "Ich befand mich also selbst in dieser ambivalenten Situation, in der man so tut, als sei man völlig echt, sich aber in einer total definierten Rolle befindet, die Regeln gehorcht. Das hat mich interessiert: die Konstruktion von Realität."

Ihre erste Arbeit, "Twinlife" (2001), war noch relativ einfach herzustellen. Sørensen spielte ein krankes Mädchen, das in einem Apartment in einem Bett mit dem Blick zur Straße lag. Wer wollte, konnte das Mädchen besuchen, bevor es starb. Vier Jahre später war das Konzept ausgereift: Gemeinsam mit Köstler eröffnete Sørensen in Malmö das "Black Rose Trick Hotel", in das sich die Zuschauer wie in ein richtiges Hotel mit Speisesaal und Bar einmieten konnten. Das Hotel, von einer militärischen Ordnungsmacht als "sicherster Ort der Erde" tituliert, entpuppte sich freilich schnell als Schreckensort, in dem seltsame ansteckende Krankheiten grassierten.

Scheinwelt. Bis zu einem halben Jahr arbeiten signa an einer Installation: Die Illusion ist Knochenarbeit. Für "Ruby Town" zogen Köstler und Sørensen in verlassenen Häusern das Linoleum von den Böden und kratzten die Tapeten von den Wänden. Um die Installation von Köln nach Berlin zum Theatertreffen zu bringen, mussten die Häuser zerschnitten und in acht Lastwägen verfrachtet werden.

Schein oder nicht Schein?, lautet die zentrale Frage der signa-Philosophie. "Die Zuschauer erhalten richtiges Essen, treffen echte Menschen, und wenn sie schlafen, schlafen sie wirklich", räsoniert Sørensen. "Anders ist bloß der Bezugsrahmen, in dem unsere Besucher diese Dinge tun."

Ausgerechnet die alte Gattung Theater versucht also einzulösen, was virtuelle Internetspiele wie "Second Life" seit den neunziger Jahren nur simulieren: sich unter falschem Namen in einer Welt bewegen zu können, die sich vom eigenen Alltag markant unterscheidet. Wie jedes Computerspiel kann aber auch signa-Theater süchtig machen: Sørensen träumt davon, die Laufzeit einer Vorstellung auf 365 Tage auszudehnen.
Peter Schneeberger






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