Falter - 22.10.2008
"Da ist schon Wut"
Der Komponist Georg Friedrich Haas über seine Oper "Melancholia" und das Zerbrechen an der Welt.
Was der Einzelne vermag und wie sich individuelle Stimmen und Klänge zu
einem größeren Ganzen fügen lassen, das war immer eines der zentralen
Themen in den Werken des Komponisten Georg Friedrich Haas. Radikal
auskomponiert hat er dieses Programm in "...Einklang freier Wesen..."
(1994), in dem er für das Klangforum Wien zehn an sich selbstständige
Solostücke kunstvoll miteinander verwoben hat. Durchaus im Geiste
Hölderlins, der in seinem lyrischen Briefroman "Hyperion" formulierte:
"Was wäre auch diese Welt, wenn sie nicht wär ein Einklang freier
Wesen?" Mit Romantik hat das freilich wenig zu tun, viel mehr mit einem
feinen Gespür dafür, dass diese mögliche Freiheit immer schon bedroht
ist. Viele seiner Arbeiten - von der ebenfalls an Hölderlin angelehnten
Oper "Nacht" über "Wer, wenn ich schriee, hörte mich" bis zum
Ensemblestück "in vain" - hat Haas daher dunkel gefärbt, der
traditionell temperierten Harmonik seine irisierenden Obertonspektren
und Mikrotonintervalle gegenübergestellt.
Im Schriftsteller und
Theaterautor Jon Fosse, der seinen Roman "Melancholie" um die
Geschichte des norwegischen Landschaftsmalers Lars Hertervig aufgebaut
hat, hat Haas nun einen kongenialen Mitstreiter gefunden. "Gefunden"
hat die beiden eigentlich Hans Landesmann, der noch als Musikdirektor
der Wiener Festwochen die Idee beisteuerte. Für die Oper "Melancholia",
die jetzt im Juni an der Pariser Nationaloper in der Bastille
uraufgeführt wurde und diese Woche im steirischen herbst zu sehen ist,
hat Fosse den ersten Teil seines Romans in ein Libretto umgearbeitet,
das jedenfalls genau diese dunkle Verstimmung zwischen Individuum und
Welt zum Thema hat, um die es auch Haas in seiner Musik geht.
Das Telefongespräch mit dem 1953 in Graz geborenen Georg Friedrich
Haas, der derzeit in Basel lebt und unterrichtet, fand übrigens weit
jenseits der blauen Stunde statt.
Falter: Arbeiten Sie eigentlich gerne in der Nacht?
Georg Friedrich Haas: Ich glaube, es ist eine allgemeine menschliche
Tendenz, dass man den Abend gerne verlängert. Ich bin eher ein
Abendmensch.
Sie haben die Nacht vielen Ihrer Arbeiten als Thema mitgegeben. Wie hat denn das begonnen?
Haas: Die Dunkelheit beschäftigt mich, seit ich komponiere. Ich berufe
mich da gerne auf Franz Schubert, der einmal erstaunt gefragt hat, ob
es denn überhaupt heitere, fröhliche Musik gibt. Jede Musik sei doch
irgendwie dunkel. Ich gebe zu, der Satz ist musikwissenschaftlich
wahrscheinlich nicht zu halten. Aber für mich ist das, was ich in der
Musik mache, grundsätzlich mit Bereichen der Dunkelheit und der Trauer
verbunden.
Für Zerstreuung sind Sie nicht zu haben?
Haas: Die Frage ist eher, wie man sich zerstreuen will. Die Befreiung
durch Gelächter ist nicht das, was mir unbedingt liegt. Was ich eher
kann: Befreiung oder Zerstreuung dadurch zu erreichen, dass ich im
Idealfall den eigenen Schmerz in künstlerisch vollendeter Form im
Konzert oder auf der Bühne wieder wahrnehmen kann.
Es gibt aber
auch fröhliche Musik zu dunklen Themen. Kennen Sie Peter Licht? Der hat
gerade das Album "Melancholie und Gesellschaft" aufgenommen.
Haas: Ich bin sehr konzentriert auf "E-Musik", obwohl ich mit dem
Begriff nicht ganz glücklich bin. Was mich außerhalb dieses
"traditionellen Repertoires der Neuen Musik" - das finde ich schöner -
interessiert, sind nicht-europäische Musiktraditionen. Wenn man nach
Japan, Indien oder Afrika schaut, findet man Phänomene, die mich auch
deswegen interessieren, weil ich glaube, dass es so etwas gibt wie eine
menschliche Disposition des Hörens. Ich glaube eben nicht, so wie
Adorno das sagt, dass alles kulturell bedingt ist. Und diese
Grunddisposition gründet nicht auf Tonalität, die es außer in Europa
und in den von europäischen Traditionen infizierten Kulturen nirgends
auf der Welt gibt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Haas: Ich erinnere mich, als einmal in Darmstadt der japanische
Komponist Toshio Hosokawa eine Gruppe buddhistischer Mönche singen
ließ. In der anschließenden Diskussion hat dann jemand absichtlich
provokant gemeint, dass diese Musik für europäische Ohren so klinge,
als würden die Sänger falsch singen, weil sie ganz knapp daneben sind.
Der Mönch hat darauf zunächst mit einem Witz geantwortet: Es gebe eben
einen Unterschied zwischen Komponisten und Mönchen. Und dann hat er
gesagt, dass gerade darin - in diesen "falschen" Stimmen - die
Spiritualität liege. Oder: Warum ist die Orgel so ein heiliges
Instrument? Antwort: Kein anderes Instrument ist so falsch, so
verstimmt, hat so viele Schwebungen. Und genau diese Schwebungen,
verbunden mit dem halligen Raum, machen das Gefühl von Spiritualität
und Göttlichkeit aus. In dem Punkt sind Christentum und buddhistische
Erfahrung gar nicht so weit weg voneinander.
Nur wird das im Christentum nicht derart reflektiert.
Haas: Nein. Ein Priester, der falsch singt, schämt sich dafür, obwohl
er eigentlich wissen müsste, dass diese furchtbaren Intonationsfehler,
die er macht, ja auch von seinem eigenen Instinkt hin zur Spiritualität
herrühren. Dafür muss er Töne finden, die außerhalb dieses Gefängnisses
der überlieferten Kirchentonarten liegen.
Jon Fosses Buch
"Melancholie" ist auch an das Schicksal des Malers Lars Hertervig
angelehnt, der in Wahrheit unter Schizophrenie litt. Was ist für Sie
Melancholie?
Haas: Ich glaube, dass jeder Mensch, der mit
offenen Augen durch die Welt geht und das Leid, das er da sieht und
seine Unfähigkeit, daran etwas zu ändern, eben darunter leiden wird.
Abgesehen davon, dass er dazu noch unter seinen persönlichen
Erfahrungen zu leiden hat. Das ist eine grundsätzliche menschliche
Befindlichkeit. Die Frage ist, ob man sie zudeckt oder als Emotion auch
zulässt.
Und in "Melancholia" haben Sie diese Melancholie komponiert?
Haas: Die Oper ist ja keine Abhandlung über den Zustand der
Melancholie, sondern über ein Zerbrechen an der Welt, über die
Unfähigkeit, die Welt zu erkennen, für irgendetwas Partei zu ergreifen
und etwas zu tun, über die Unfähigkeit, mit den Menschen, die einem
wichtig sind, zu kommunizieren. Das kann man schon als einen Teilaspekt
fortgeschrittener Melancholie betrachten. Und es geht auch nicht um die
historische Figur des Lars Hertervig. Es wäre ja völlig uninteressant,
das Leben eines verkannten Genies aus dem 19. Jahrhundert auf die Bühne
zu stellen - so schön seine Bilder auch sind, so aufregend, ich liebe
diese Bilder.
Wie weit finden Sie sich in der Figur des Lars?
Haas: Als Komponist einer Oper hat man das Problem, dass man in dem
Augenblick, in dem man für eine Person schreibt, in diese Person
hineinschlüpft. Ein wunderbares Beispiel dafür ist der Pizarro im
"Fidelio". Es gibt kaum negativere Gestalten in der Opernliteratur. Und
trotzdem: Wenn man seine Wut-Arie hört, geht man mit ihm mit und merkt,
dass Beethoven in der Zeit, in der er "Pizarro, den du fürchten
solltest" geschrieben hat, selbst zu hundert Prozent Pizarro war. Und
ich habe mich natürlich in diese Figur Lars Hertervig zu hundert
Prozent hineinversetzt, um mit ihm zu versuchen, aus der Unfähigkeit
des Verstehens der Welt eine Konsequenz zu ziehen, die zu etwas
Sinnvollem führt.
Wie drücken Sie das musikalisch aus?
Haas: In meiner Harmonik habe ich sehr gute Erfahrung damit gemacht,
dass ich zwei Klangprinzipien miteinander verbinde, deren einzige
"Gemeinsamkeit" darin besteht, dass sie nichts gemeinsam haben. Auch
mein Stück "in vain" aus dem Jahr 2000 besteht aus zwei harmonischen
Prinzipien: aus temperierten Akkorden Tritonus-Quint und aus
Obertonakkorden, die schonungslos ineinander übergehen. Davon lebt das
Stück. In der Oper stehen einander ebenfalls zwei Welten gegenüber: die
des Orchesters und die der Sänger. Man kann auch hier darauf
verzichten, einen Zusammenhang zwischen den beiden herzustellen. Und
Fosse hat mir im Libretto noch etwas dazugeschenkt: Es gibt ja nur die
zwei Figuren Lars und Helene. Die anderen Personen sind Choristen. Der
Gegensatz zwischen Individuum und Gruppe wird dadurch noch verstärkt.
Am Ende der Oper zieht sich Lars zusehends in sein Schweigen zurück,
und selbst Helene verschwindet im anonymen Chor. Das ist nicht gerade
ein Happy End.
Haas: Ja, aber ich habe um diesen Schluss sehr
lange gekämpft. Helenes Onkel, Herr Winckelmann, holt zwei Polizisten,
die Lars aus Düsseldorf hinauswerfen. Danach geht er nach Norwegen und
malt dort diese Bilder, die mich heute noch packen. Lars Hertervig geht
also von einer Welt in eine andere. Das ist eine Art von Transzendenz.
Was interessiert Sie an Künstlern wie Hertervig oder auch am
schizophrenen Maler Adolf Wölfli, dem Sie - im Rahmen des steirischen
herbst 1981 - Ihre erste Oper gewidmet hatten?
Haas: Was
Hertervig betrifft, bin ich ehrlich böse - ganz abstrakt - auf "die
Gesellschaft". Dadurch, dass dieser Mensch nicht erkannt wurde, wurde
mir etwas genommen, nämlich die Möglichkeit, mir seine nächsten fünfzig
Ölbilder anzuschauen. Aber ihm hatte einfach das Geld gefehlt, Ölfarben
und Leinwand zu kaufen. Das ist wirklich ein Verlust - auch für mich.
Und wenn man auf den Friedhof geht, auf dem er liegt - dort hat man
zehn Jahre nach seinem Tod eine Statue hingestellt, für die irgendein
drittklassiger Bildhauer vermutlich eine Menge Geld bekommen hat -,
kommt schon die Wut in einem hoch.
Verkennt die Gesellschaft immer noch ihre kreativen Kräfte?
Haas: Ich hab' mich in vielen Momenten mit Hertervig identifiziert, es
gibt auch einige erstaunliche Parallelen. Hertervig ist im Norden
aufgewachsen, als Quäker in einem protestantischen Umfeld, ich bin als
Protestant in einem katholischen Umfeld im Montafon aufgewachsen, an
einem nach Norden gerichteten Hang. Und an dieses Gefühl, das Fosse
beschreibt - ich weiß, dass ich malen kann, und die anderen können das
nicht, glauben aber, sie seien viel besser -, kann ich mich während
meiner Studienzeit noch sehr gut erinnern.
Haben Sie das so stark erlebt?
Haas: Rückwirkend bilde ich mir das ein. Man muss sich nur die
Aufführungsliste aus der damaligen Zeit anschauen. 1981 wurde die
Kurzoper "Adolf Wölfli" aufgeführt, dann für lange Zeit fast nichts
mehr. 1987 gab es dann in Graz wieder eine Personale in der
Katholischen Hochschulgemeinde. Dazwischen hab' ich Hauskonzerte
veranstaltet, um gehört zu werden. Das ist der Unterschied zwischen
Hertervig und mir: Ich habe Hauskonzerte mit Vierteltonklavieren
veranstaltet. Es ging mir schon besser als ihm. Er war in der
Irrenanstalt, und ich war auf der Musikhochschule.
Sehen Sie Ihre Musik auch als konkrete Antwort auf gesellschaftliche Missstände?
Haas: Wenn ich versuchen würde, auf äußere Umstände gezielt mit Musik
zu reagieren, dann würde ich das nicht schaffen. Ich versuche, in mich
zu hören, meine eigenen Klangträume zu verwirklichen, und habe
eigentlich aufgehört, dafür gesellschaftliche Rechtfertigungen zu
suchen. Da habe ich schon resigniert. Ich bin ein Egomane, so wie Lars
Hertervig ein Egomane war, und Hertervig hat es geschafft, mit seinen
Bildern die Sehnsucht nach Licht so zu formulieren, dass es heute noch
ergreift. Ich wäre froh, wenn ich das mit meiner Musik auch schaffen
würde.
Mit "in vain", das im ersten Jahr der schwarz-blauen Koalition entstand, haben Sie schon einmal sehr unmittelbar reagiert.
Haas: Gestern hat mir ein italienischer Student seine Diplomarbeit
gezeigt, die er in Parma zu "in vain" verfasst hat - mit dem traumhaft
schönen Titel "L'euforia di Bruckner e la catastrofe di Schüssel".
Wunderbar! Aber wenn ich heute dieses Stück höre, in dem ich versucht
habe, Musik angesichts der beklemmenden Erkenntnis zu komponieren, dass
das längst überwunden Geglaubte wieder auftaucht, dann bin ich entsetzt
darüber, wie schön ich dieses "längst überwunden Geglaubte" in Töne
gesetzt habe. Vom Standpunkt der Musik stimmt das Stück zu hundert
Prozent. Vom Standpunkt der Ideologie, muss ich sagen, ist es verfehlt,
ganz gewaltig verfehlt.
Was haben Sie dann bei den letzten Wahlen in Österreich empfunden?
Haas: Der Ausdruck Melancholie würde da zu kurz greifen. Da ist schon
Wut. Gerade wenn man außen steht, ich lebe ja in der Schweiz, fragt man
sich, wie so etwas sein kann.
In der Schweiz kann dafür jemand wie Christoph Blocher sein.
Haas: Blocher ist furchtbar, keine Frage. Hier war man entsetzt
darüber, dass die Volkspartei Plakate aufgehängt hat, auf denen
Schweizer Reisepässe zu sehen waren und Hände - teilweise sichtlich von
Asiaten und Afrikanern -, die nach diesen Pässen greifen. Und darunter:
"Nein". Dann komme ich nach Graz und sehe die
BZÖ-Plakate
mit der Gleichstellung von Asylwerbern und Müll. So weit würde Blocher
nicht gehen, dass er Menschen mit Müll gleichsetzte.
Was sagen Sie zum Trauerkult um
Jörg Haider?
Haas: Natürlich ist es furchtbar, wenn ein Mensch in den Tod fährt.
Aber ich kapiere nicht - um nur eines von vielen Beispielen zu nennen
-, dass sogar Bundespräsident
Heinz Fischer den Ziehvater des Rechtsextremismus als "Politiker mit großen Begabungen" bezeichnet. Da stehe ich einfach fassungslos da.
Der Maler
Sowohl Jon Fosses Roman "Melancholie" (1995/96) als auch das
Opernlibretto zu "Melancholia" sind lose an die Biografie von Lars
Hertervig angelehnt, der heute als einer der wichtigsten norwegischen
Maler gilt, zu Lebzeiten allerdings keinerlei Anerkennung erfuhr,
während seines Kunststudiums in Düsseldorf schizophrene
Verhaltensweisen entwickelte und 1902 völlig verarmt in Stavanger starb
Die Oper
"Melancholia" basiert auf dem ersten Teil von Fosses Roman und ist wie
dieser aus der Innensicht des Lars erzählt, der nach Düsseldorf kommt,
sich in Helene, die Tochter seiner Vermieterin, verliebt, ausziehen
muss, zum Gespött seiner Mitstudierenden wird und am Unverständnis der
Welt letztlich zerbricht. Es spielt das Klangforum Wien (Emilio
Pomarico), Otto Katzameier singt den Lars, Melanie Walz die Helene.
Grazer Oper, Fr, Sa 19.30
Der Fotograf
Das Porträt von Georg Friedrich Haas stammt von Philippe Gontier, der
die zeitgenössische Musikszene seit mehr als zwanzig Jahren mit seiner
Kamera begleitet. Im Pariser cabinet d´amateur sind ab 13.11. Gontiers
Porträts von Pierre Boulez zu sehen, dem zur selben Zeit im Louvre ein
großer Schwerpunkt gewidmet ist.
Thomas Wolkinger