Der Standard - 15.10.2008
"Wir bewohnen einen Roman"
Für ununterbrochenen Textfluss muss gesorgt werden: Fritzpunkt, jenes
Theaterkollektiv, das seit nunmehr sechs Jahren um die künstlerische
Bearbeitung des Lebenswerks der im Vorjahr verstorbenen Ausnahmeautorin
Marianne Fritz bemüht ist, thematisiert ab heute beim steirischen
herbst das Problem der Lesbarkeit bei Fritz. Weit mehr als zehntausend
Buchseiten umfasst Fritz' Gesamtwerk, allein ihr dritter Roman Dessen
Sprache du nicht verstehst , der 1985 bei Suhrkamp erschien, zählt gute
3400 Seiten.
In Graz wird dieser Roman nun in elf Tagen und
Nächten nonstop gelesen. "Man muss das Ganze machen, um zu zeigen, dass
man überall ein-, aber auch wieder aussteigen kann", sagen die
Initiatoren Anne Mertin und Fred Büchel. Sie gehen noch weiter: "Fritz
ist nicht zum Lesen geeignet, sondern zum Hören, zum Arbeiten." Ihre
Prosa liegt, durch ihre Konsonantendichte und Vokalwahl, nahe am
Gesang. Büchel und Mertin sehen Dessen Sprache du nicht verstehst als
"Skelett" des mit Die Festung überschriebenen Gesamtwerks, in dem Fritz
die österreichische Geschichte aufarbeitete.
" Die Festung ist
eine psychiatrische Anstalt, deren Innenleben ich genau erzähle", hatte
Marianne Fritz 28-jährig über ihr gewaltiges Lebensprojekt geschrieben.
In Graz, wo Fritzpunkt ab heute, 12 Uhr, bis 26. Oktober den Textfluss
kontinuierlich strömen lassen (Mertin sagt: "Wir bewohnen einen
Roman!"), geht es nicht zuletzt um die Verbindung der Innen- mit einer
Außenwelt. Die Zuseher, gerne auch Passanten, sehen die Protagonisten
im Kunsthaus, hören dazu aber den Text eines Rezipienten, der womöglich
in diesem Augenblick durch die Stadt spaziert. Dieseda und Diesedort
ist so auch der Titel der Performance. Einen Roman bewohnt man, indem
man die Wahrnehmungsebenen trennt.
Auf www.fritzpunkt.at und www.stei rischer herbst.at kann man die Fritz-Lesung via Livestream hören.
Isabella Hager