www.gat.st - 20.06.2008
Unglück vermeiden und die Welt retten – Steirischer Herbst ´08
Immanuel Kant, heißt es, habe sich Listen angelegt von Dingen und
Themen, über die er nicht mehr nachdenken wollte. Ein bemühter Versuch,
das Gehirn frei zuschalten für Wichtigeres, ein zu diskutierendes
vielleicht gar nicht Paradoxon, nachdem der Philosoph zu eliminieren
versucht, indem er festhält. „Listen schreiben“, meint Intendantin
Veronica Kaup-Hasler im Vorwort zum Programmheft für den Steirischen
Herbst ´08, „tut man, wenn die Verhältnisse unübersichtlich geworden
sind“ – und das sind „die Verhältnisse“ in Wirklichkeit zu jeder Zeit.
Über das Prinzip der Aufgabenliste, und als Explosionszeichnung
umgesetzt für den Umschlag des Programmheftes, nähert sich der kommende
Steirische Herbst der Erfüllung seines aktuellen Leitmotivs, nämlich
„Strategien zur Unglücksvermeidung“ in Form künstlerischer und
diskursiver Handlungen vorzuschlagen. Wenn zurzeit allenthalben
überlegt wird, was das Glück denn sei und wie man wohl in seinen Genuss
geraten könnte, dann dürften sich die Geschicke des gesellschaftlichen
Lebens der aktiven Einflussnahme durch das Individuum offenbar entzogen
haben und was bleibt ist die Hoffnung auf das Glück im richtigen
Augenblick. Wir könnten von Glück reden, wenn die „Strategien zur
Unglücksvermeidung“ sich als praktikabel in einer Wirklichkeit abseits
der Kunst erweisen sollten. Angeboten jedenfalls werden sie uns im
Steirischen Herbst vom 2. bis 26. Oktober.
Eröffnet wird am 2. Oktober in der Helmut-List-Halle, in der der
Bildhauer Christoph Steinbrenner und der Foto- und Typograf Rainer
Dempf eine begehbare Skulptur installieren und die Rituale und
Konventionen von Eröffnungen zum selbstreferentiellen Projekt formen.
Das Publikum ist zugleich Beobachter und Akteur, die Installation
zugleich die Feier unter dem Titel „Volksbad Wagner-Biro-Straße“.
Raumlaborberlin, das sind die Künstler und Architekten Benjamin
Foerster-Baldenius und Jan Liesegang, gestalten heuer das
Festivalzentrum im Joanneum-Gebäude Neutorgasse, das so – vor dem
Generalumbau zum Museumsquadranten – für den Herbst adaptiert wird.
Liesegang erzählte in der Pressevorstellung vom „Initial“-Erlebnis für
seine spätere Karriere, als während seiner Grundschulzeit das Haus des
städtischen Gasinspektors durch eine Gasexplosion … ja, wirklich! Das
an sich wenig erfreuliche Phänomen der Explosion ist seither für
Liesegang vor allem anwendbare Struktur eines Augenblicks vor der
Auflösung.
Eine begehbare Explosion wird also ins Festivalzentrum führen, das in
einer weiteren Anlehnung an Explosionsbilder aus Filmen von
Michelangelo Antonioni die Monochromie von Staub und
Schwarzweiß-Sequenzen aufnimmt. Gleichwohl finden im Festivalzentrum
ein Café, Projekte von Nature Theater of Oklahoma (USA), Herrn Manfred
(A), Club oder das Filmprogramm Der Ruhm des Beliebigen Raum.
Programmiert von Reinhard Braun sind Filme von Klaus Scherübl,
Alexander Kluge, Sean Snyder, Luis Buñuel, Otto Piene, Bill Viola oder
Gottfried Bechtold zu sehen. Ein „modulares Videopragramm in progress“,
„Bilder des Festivals“ von Timm Ringewald (D) reflektiert die
vergangenen beiden und das aktuelle Festival. Ebenfalls im
Festivalzentrum ist das „Ersatzherbstlager“ eingerichtet, mittels dem
die Gruppe endlich Katzenersatz – Wurstenden 14,90 (ekw 14,90) (A/CH)
für gleichwertigen Ersatz aller eventuell eintretenden Programmausfälle
sorgen will.
SIGNA (DK/A) richten in den „hinteren Winkeln“ des Joanneums ein
Hospital ein, in dem Besucher für die Dauer von 6 bis 24 Stunden als
Patienten Gegenstand der „Komplex-Nord-Methode“ für Amnesie-Kranke
werden können. Eine theatrale Interaktion gegen allgemeines wie das
Kant’sche Vergessen.
Theatralische und filmische deutschsprachige bzw. österreichische
Erstaufführungen werden umgesetzt von Michel Schweizer (F) mit fünf
Schäferhunden und Hundeführer, einem Psychoanalytiker, einem
Philosophen und einem ehemaligen Legionär.
Geschlechterspezifische Tradierungen und die Dressur einer
Ballettschule sind Thema bei Eszter Salamon (D/H). Die belgische
Künstlergruppe Berlin gibt mit „Bonanza“ ein Filmporträt einer nahezu
verlassenen ehemaligen Silberminenstadt. Eine Oper in drei Teilen ist
„Melancholia“ von Friedrich Haas (A) und Jon Fosse (N) und Giséle
Vienne (F) gibt mit „Jerk“ eine Soloperformance für einen Puppenspieler.
Gleichermaßen brisant wie Versuch, dem bevorstehenden Unglück
vorzubeugen, ist die Koproduktion des HDA (Haus der Architektur) mit
Steirischer Herbst „mit freundlicher Unterstützung von Acoton“, wie im
Programmheft zu lesen ist. „F für Fußgänger“ macht den Grazer
Andreas-Hofer-Platz zum Gegenstand einer temporären baulichen
Intervention. Die Künstler und Architekten Köbberling und Kaltwasser
verwenden Material aus Abfallcontainern und recyceltes von Baustellen,
das im Rahmen von Self-Service-Urbanisierung in allgemein nutzbares
umgewandelt wird.
Eine weitere Koproduktion des Afro-Asiatischen Instituts, ISOP, KHG,
Kulturzentrum bei den Minoriten und heißt „wie du mir“ und handelt von
Gegenbildern für transkulturelles Handeln. Subversiv gegenüber dem
Leitmotiv geht man davon aus, dass Lebensglück für alle ein Desiderat
bleibt und die Festung Europa weiterhin im Ausbau begriffen ist.
„Strategien zur Unglücksvermeidung“ findet auch diesmal wieder als
Walking Conference statt, außerdem bildende Kunst im Galerienprogramm,
Musikprotokoll, Herbst-Akademie, Workshops, Kinderprogramm. – Und mit
der Tante Jolesch wünschen wir uns, dass „abgehütet“ werden soll „von
allem, was noch ein Glück ist“.
Wenzel Mracek