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Kronen Zeitung - 06.10.2008
Die Realität kann man vergessen
Für den "steirischen herbst" betreibt das Künstlerduo SIGNA eine Amnesie-Klinik:

Man nennt mich Franco Walter-Lipow! Mit diesem Namen werde ich in der Amnesie-Klinik begrüßt, die SIGNA für ihre "Komplex-Nord Methode" im Joanneum eingerichtet hat. Alle können sich an mich erinnern, ich kenne niemanden . . . Ein Bericht über 18 Stunden in einer Welt zwischen Realität und Theater.

"Du hast viel Gewicht verloren, Franco", sagt die nette Krankenschwester, die mich zu meinem Bett bringt und mir meine Kleidung und meine mitgebrachten Habseligkeiten abnimmt. Sie stellt sich als Zucki Ackart vor und bringt mir meine Klinik-Kleidung, die schäbig und abgetragen ist.

Doktoren und Krankenschwestern kommen zu mir ans Bett, fragen nach meinem Befinden und immer wieder nach meinem Namen. Ich bemerke, dass der Reflex mit meinem richtigen Namen zu antworten langsam abstirbt. Da ich mir meinen neuen aber partout nicht merken kann, beantworte ich die Frage nach meiner Identität oft mit Stille, muss mir eingestehen: Verdammt, ich weiß echt nicht mehr, wer ich eigentlich bin.

Vielleicht kann eine erste Sitzung mit einem Arzt das ändern: Mit drei Mitpatienten sitzte ich in der Primärtherapie. Mit Tiermasken auf dem Kopf sollen wir unsere Urgefühle rauslassen. Nicht einfach, wenn man nicht weiß, wer man ist. Also stehen wir verwirrt herum. Nur der Dauerpatient Chad flippt vollkommen aus (erst jetzt wird mir klar, dass er wohl ein Schauspieler ist).

Nach dem Abendessen muss ich abwaschen. Rosita und Lupita, die Köchinnen, haben das aufgetragen, weder Schwestern noch Ärzte haben widersprochen. Ich glaube, ich muss die Hierarchie in der Klinik nochmals überdenken. Als Belohnung bekomme ich von Rosita Kekse. Verbrannt und teigig sind sie, aber mit dem Küchenpersonal will ich es mir nicht verscherzen.

Spätabends werden wir von Oberärztin Dorin Chaikin zu einem Schlummertrunk geladen. Bei Wodka bekommen wir eine Lektion in Sexualhygiene, dürfen Porno-Heftchen ansehen. Schwester Schwarz grinst: "Du warst ja immer schon verspielt, Franco." Beim Puzzlebauen am frühen Abend hat das auch schon Schwester Ackart gemeint, also muss es wohl stimmen.

Einiges konnte ich über mich jetzt ja schon herausfinden, stelle ich fest, als ich ins Bett gebracht werde. So ganz bereit für die Entlassung am Morgen fühle ich mich aber nicht. Ich weiß noch immer nicht, was bei dem Unfall passiert ist, den ich laut Schwester Roth vor einigen Jahren hatte, oder welchen Beruf ich davor ausgeübt habe. Und plötzlich wird mir klar, dass ich Franco mittlerweile nicht mehr in der dritten, sondern in der ersten Person sehe. Der Schlaf, der über mich kommt, ist der Schlaf des Franco Walter-Lipow.

Am Morgen verlasse ich die Klinik. "Glauben sie aber nicht, dass ihre Amnesie schon gänzlich geheilt ist", warnt der Doktor beim Entlassungsgespräch. Am Weg nach draußen treffe ich noch einmal Holly, die gemeinsam mit mir eingeliefert wurde. "Auf Wiedersehen Franco", sagt sie. "Auf Wiedersehen, Holly", erwidere ich. An ihren richtigen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.


Christoph Hartner






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