Falter - 22.10.2008
Der Wahnsinn macht so müde
steirischer herbst, die dritte Woche: Wir fressen Torte, wir saufen Schnaps
Der Mittwoch. Das nächste Marathonprojekt an der Grenze des Irrsinns:
Nachdem gerade erst Signa ihre psychiatrische Anstalt im
Festivalzentrum nach zehn Tagen Nonstop-Betrieb geschlossen haben, geht
nun fritzpunkt ans Werk. 7 Theatermacher lesen 1 Roman mit 3305 Seiten
in 11 Tagen und 11 Nächten. Quersumme: 23. Na also.
Was der
herbst-Besucher davon hat? Der kann im Medienkunstlabor, das zu einer
Art Messie-Terrarium umgebaut wurde, sechs Mitgliedern des Kollektivs,
das sich vor Jahren schon ganz der Aneignung des Literaturuniversums
von Marianne Fritz verschrieben hat, beim Lesen, Haferflocken-Essen und
Warten zuschauen. Hören tut man sie nicht. Zum Hören gibt es Kopfhörer.
Und über die wird übertragen, wie sich das siebente fritzpunkt-Mitglied
gerade durch Marianne Fritz' Roman "Dessen Sprache du nicht verstehst"
liest. Dies ist wiederum nicht zu sehen, weil das Buch beim
Stadtwandeln - laut in ein Mobiltelefon gesprochen - erlesen wird.
Klingt kompliziert, erschließt sich auch nicht leichter, wenn man vor
Ort ist. Wer sich nicht auskennt, liest einfach in den aktuellen
manuskripten nach, die zu einem Teil der 1948 in Weiz geborenen
Schriftstellerin und ihrem zehntausendseitigen literarischen
Festungsprojekt gewidmet sind. ",Die Festung'", schreibt sie dort, "ist
eine psychiatrische Anstalt."
Auch der Abend brachte keine
Heilung. Die Philosophin Judith Revel - die restliche Woche in Manuela
Zechners und Paz Rojos zungenbrechendem Workshop "vocabulaboratories"
tätig - öffnete sich im Joanneum einem größeren Auditorium und sprach
über das "Gemein(sam)e". Am Ende kam raus: "Wir sind dieses
Gemein(sam)e". Klar: Nur gemein und allein - wer will das schon?
Der Donnerstag. Das Wir und das Ich in all ihren Schattierungen
durchzogen auch Meg Stuarts "All Together Now" und Gisèle Viennes
"Jerk". Super Stücke. Aber das steht alles in den Kritiken nebenan. Was
dort nicht steht: Die Sacher-Torte, die in der List-Halle zum Verzehr
gereicht wurde, war erstklassig. Das süße Abendmahl hätte eine schöne,
nicht unpeinlich lange Szene werden können, wäre da nicht das
verhaltenskreative Grazer Premierenpublikum gewesen, das offenbar seine
alltäglichen Sozialdefizite mit Interaktionen im Kunstumfeld
(Tänzerfütterungen!) kompensieren wollte. Evil! Hätte man die doch alle
zu "Jerk" geschickt. Da war nicht zuletzt von der psychotischen
Internalisierung devianten Verhaltens die Rede.
Der Samstag.
Während am selben Abend ein Klon-Set der Blue Man Group in der
Stadthalle vor 6000 Zahlenden tobte, begab sich im Dom im Berg, viel
bedächtiger und ganz in Jeansstoff, das Zagreber Kollektiv BADco. -
Dramaturgen, Choreografen und ein Philosoph - auf die Spuren des
überhaupt ersten Films "Arbeiter verlassen die Lumière-Werke" (1895).
In der kryptisch "1 poor and one 0" betitelten Arbeit körperdenken die
Blaumänner über Arbeit, Film und Tanz im Postindustrialismus nach, über
Erschöpfung und Freizeit. Körperdenken? Man darf auch "Braindance" zu
diesem streng konzeptuellen Tanzessay sagen, dessen Themenfelder in
einem anschließenden Talk mit gemeinsamem Schnapskonsum abgegrast
wurden. Warum nur, hat da eine der Tänzerinnen gefragt, müsse sie
eigentlich ihre Freizeit investieren, um die des Publikums zu versüßen?
Gute Frage. Und wann, will man dagegenhalten, wird Kunstkonsum endlich
als Arbeit anerkannt?
Dann machten noch "International
Festival" - die alten Schweden aus dem letzten herbst - mit ihrer
mobilen Disco Station im Dom. Glitzersirene, Laptop-Georgle und eine
Pet-Flasche voll mit Herrn Manfreds Kalashnikov. Das haut den stärksten
Beobachter um. Ja, eine Kultur der Erschöpfung.
Der Sonntag.
Vier Nächte hat fritzpunkt schon ausgehalten. Das hat Spuren
hinterlassen. Im Terrarium wird heftig diskutiert, so laut, dass man es
draußen hört. Über Sinn oder Unsinn der Aktion, über Karl May. Fred
Büchel spielt mit einer Spielzeugpistole. Wenn das nur gut geht.
Thomas Wolkinger