Falter - 26.09.2008
Vergiss Theater!
Die radikalen Theaterperformer SIGNA sind mit ihrer Amnesiestation zu Gast im steirischen herbst.
Verschalungen werden von Neonlampen genommen, damit sie räudiger
aussehen. Vergilbtes Linoleum ist auf den Fußboden aufgezogen. So
weich, dass man darin zu versinken scheint. Fünfzigerjahre-Küchenkästen
mit abgeblättertem Lack. Schläuche ragen aus der Wand und gehen ins
Nirgendwo. Setdesigner Thomas Bo Nilsson wacht über die letzten
Feinarbeiten bei der Herstellung des imaginären Psychiatrischen
Instituts, trägt aber schon den Arztkittel. Noch riecht es nach Kleber
statt nach Äther. Krankenschwestern, deren pastellblaue
Kunstfaserkleider auch zu Stewardessen aus Sechzigerjahrefilmen passen
würden, postieren und posieren. Militärisch und doch
geborgenheitvermittelnd.
Ein Widerspruch, der Spannung erzeugt.
Spannung, die im Zentrum von SIGNAs Arbeit steht, deren Ziel es ist,
eine Atmosphäre zu schaffen, die zugleich unangenehm und anziehend ist.
Widersprüchlich wie die portugiesische Saudade, die glücklich und doch
traurig zur selben Zeit ist, ist sie hässlich und wunderschön. Bis ins
kleinste Detail, fanatisch. Bis zur Unterwäsche und den Parfums, die
die Schwestern tragen, wird bei der "Komplex-Nord-Methode" eine
temporäre, durchkomponierte Lebenswelt geschaffen, in die der Besucher
für sechs bis 24 Stunden eintreten kann, als Amnesiepatient, der seine
gewohnte Wirklichkeit verlässt. Als Zuschauer, der selbst zum Akteur
wird. Für die als Ärzte, Schwestern, Patienten, permanente Bewohner
dieser Welt engagierten 18 Darsteller dauert der Aufenthalt neun Tage,
in einem Theater, das keinen Unterschied kennt, zwischen Bühne und
Auditorium.
Jahrelang galt an Schauspielhäusern die Regel,
nicht mit dem Kino und dem Fernsehen konkurrieren zu wollen. Eine
Illusion auf der Bühne erzeugen zu wollen, galt als absolut tabu und
wurde getrost der Leinwand und dem Bildschirm überlassen, auch dem der
Computerspiele. Medien ja bitte, aber dann nur mit mindestens drei
Metaebenen, Referenzsystemen und komplexen Theoriengebäuden. Und dann
kam SIGNA. Seit 2004 arbeiten die dänische Performancekünstlerin Signa
Sørensen und der österreichische Medienkünstler Arthur Köstler unter
diesem Label zusammen. Mit einer Kompromisslosigkeit und Direktheit,
die man sich nur erhalten kann, wenn man abseits der gängigen Szene
seine Visionen verwirklicht, belehren sie alle eines Besseren und
stellen perfekte Illusionen her. Als sie vergangenen Mai mit "Rubytown"
zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, hatten sie von dem
höchsten Ziel eines jeden Stadttheaterdirektors noch nicht einmal
gehört. So mussten sie ihr in der Kölner Halle Kalk gebautes Dorf aus
Bretterbuden und Wohnwagen mit Cafés, Geschäften und Friseursalon
zerlegen und mittels Sattelschleppern nach Berlin transportieren.
"Natürlich führt es zu einigen Problemen, ein Theaterpublikum zu haben,
da dieses bestimmte Erwartungen hat. Der Analyseapparat in den Köpfen!
Es dauert eine gewisse Zeit, den Menschen beizubringen, dass dieser
Apparat in unserem Zusammenhang nicht anwendbar ist." Sørensen hat bei
aller Schärfe der Analyse oft ein kleines Lachen in der Stimme. Nicht
wirklich schelmisch, sondern eher von einer großen Lebensfreude
getragen. "Das Publikum muss wissen, dass es auch aktiv sein muss, den
Raum erkunden und erspüren. Der Fokus liegt nicht nur auf den
Schauspielern. Aber umgekehrt kann es auch zu Problemen führen,
Installationen in einem Kunstkontext zu machen, da hier das Publikum
durch die Schauspieler verängstigt wird." Insofern trifft es sich gut,
beim steirischen herbst zu Gast zu sein, da die Interdisziplinarität
eigentlich die Heimat von SIGNA ist.
Sørensen beginnt ihre
Arbeit an Installationen im Jahr 2001 und ist in Dänemark von Beginn an
von der Theaterszene in Beschlag genommen. "Als ich begonnen habe, lag
mein Hauptfokus definitiv im Gestalten der Räume. Um eine Beziehung
zwischen den Räumen und dem Publikum herzustellen, aber auf eine neue
Art, ließ ich sie von Menschen bewohnen." Köstler kommt eigentlich von
der Musikperformance. Aufgewachsen in einem oberösterreichischen Dorf
lernt er Friseur und Perückenmacher, um Special Effects für Zombiefilme
zu machen. Der Arbeit schnell überdrüssig geworden, formiert er mit
Mitgliedern der Band Fuckhead das Projekt "Pest", geht dann der Liebe
wegen nach Dänemark und bleibt dort hängen. Beginnt in Kopenhagen Kunst
zu studieren, trifft schließlich Sørensen, teilt ihr Interesse an
temporären Heimaten, die Fragen nach Identität, Hierarchie, Vertrauen,
Verwundbarkeit aufwerfen.
Oft wird SIGNA vorgeworfen
manipulativ zu sein, doch Sørensen sieht das als Kompliment.
"Manipulation ist eines unserer Hauptwerkzeuge. Wir erzeugen eine
möglichst perfekte Illusion, aber binden in diese reale Elemente ein.
Auch das Publikum selbst ist ja real. Wir essen, trinken, werden müde,
waschen uns, vollführen Alltagshandlungen innerhalb eines fiktionalen
Rahmens, der aber sehr konkret ist. Auch dieses Krankenhaus ist, wenn
es fertig gebaut ist, vielleicht völlig anders als Krankenhäuser in der
sogenannten Realität, aber das Ambiente ist so detailliert, dass es in
einer anderen Zeit an einem anderen Ort real sein könnte. Eine Art,
Retro-Future'." Köstler ist es dabei wichtig, dass sich das Publikum
bewusst wird, manipuliert zu werden. "Vielleicht nicht sofort,
spätestens aber, wenn es das Setting verlässt. Verführt und
manipuliert, aber sich dessen bewusst. Das sind zwei Positionen im
Betrachter, zwischen denen sich eine Spannung ergibt."
In der
Performance "Secret Girl" in Meiningen 2004 stellt Sørensen eine Frau
dar, die von zwei Männern gefangen gehalten und extrem brutal
misshandelt wird. "Aber natürlich vermittelt das, dass noch viel
schlimmere Gewalt im Hintergrund passiert. Und es erzeugt natürlich ein
extrem ungutes Gefühl beim Zuschauer, der darüber nachdenken muss, wie
er in einem solchen Fall reagieren würde, oder er reagiert sofort und
vergisst den Rahmen, in dem er sich befindet." So kommt es mitunter
auch zu echten Polizeieinsätzen. Ein Teenager stiehlt eine Spritze vom
Set, seine Mutter findet diese und verständigt die Polizei, da ein
Morphium-Etikett auf der Spritze angebracht ist. Gefälscht, versteht
sich. Diese Situation kann rasch geklärt werden. Doch Illusion und
Realität verschwimmen manchmal. In Meiningen besuchen auch Passanten
die Installation, die gar nicht wissen, dass es sich um eine solche
handelt. Oder ein Opernsänger, der als Schauspieler engagiert ist,
beginnt nach 13 Stunden Dauereinsatz zu glauben, dass SIGNA das
Festival, in dessen Rahmen sie auftreten, als Deckmantel benützen, um
ihren Perversionen nachzugehen.
Darüber, wie sehr das eigene
Spiel von einer Kontrollinstanz begleitet wird, ist das inzwischen
verheiratete Künstlerpaar unterschiedlicher Auffassung. Für Köstler ist
es wichtig, immer die völlige Kontrolle über das Geschehen zu bewahren.
"Wir denken immer an die Performance und müssen ständig Ideen
generieren und uns natürlich dessen bewusst sein, was wir und die
anderen tun." Sørensen dagegen ist überrascht, wie sehr sie sogar nach
Ende der Performance noch im Charakter verhaftet bleibt. "Ich dachte,
das würde im Laufe der Jahre schwächer werden, wird es aber nicht. Nach
ein paar Tagen vergesse ich, dass es da mich gibt und dort den anderen
Charakter. Ich überlasse es Oberärztin Dorine Chaikin, den Überblick zu
bewahren." Einig sind sich beide darüber, wie überraschend es immer
wieder ist, dass man in der Lage ist, wie eine völlig fremde Person zu
sprechen. "Als Oberärztin sage ich plötzlich Dinge, die ich nicht
einmal denken würde, und, baff, kommen sie aus meinem Mund." Insofern
ist die Arbeit von SIGNA auch so etwas wie eine Rückkehr in die
Kindheit, als man noch Rollenspiele spielte und sich in Prinzessinnen
und Ritter einzufühlen suchte. Besuchern bieten diese Situationen die
Möglichkeit, einmal über alles reden zu können. Es drohen keine
Konsequenzen, weil die Situation nicht echt ist.
Alle
bisherigen Installationen haben sich stark mit dem Zuschauer
auseinandergesetzt. Die Art, wie er sich durch den Raum bewegt, welche
Entscheidungen er trifft, welche Konversationen er beginnt. Die
"Komplex-Nord-Methode", mit der SIGNA beim steirischen herbst zu Gast
sind, tut dies aber bisher am konsequentesten. In ihr wird die
Identität des Besuchers beim Eintritt in die Psychiatrie auf einen
Nullpunkt zurückgesetzt. Seine Fassade, sein Titel, sein Aussehen
werden gelöscht. Als Amnesiepatient verfügt er über keinerlei
Erinnerung an sein bisheriges Leben, und erst im Laufe des Aufenthaltes
erfährt er vom Betreuungspersonal seine Geschichte, eine neue,
erfundene, und muss so erneut versuchen, sich selbst zu definieren. Ihm
wird zwar gesagt, was er tun soll, es liegt aber an ihm selbst zu
entscheiden, wohin und wie weit er geht.
Die nächste Station
für SIGNA wird Köln sein. Mit einem völlig neuen Format, einem morbiden
Spätachtziger-Promi-Nachtclub, der sich "Der Hades Faktor" nennt. Eine
weitere Form von vorübergehender Heimat, wie es auch Krankenhäuser,
Dörfer oder Hotels sind. Und eine große Lagerhalle muss her, um die
unzähligen Bühnenbildelemente und Requisiten, die sich über die Jahre
angehäuft haben und über ganz Europa verstreut sind, unterzubringen.
Wenn Sørensen und Köstler einem gegenübersitzen, sie mit russischem
Kopftuch und schwarzem, hochgeschlossenen Kleid, er mit schwarzem
Lederkäppi und goldener Krawatte, vermitteln sie den Eindruck, dass man
sich schon ewig kennt. Wie das so ist mit Menschen, die ständig mit
anderen zu tun haben. Etwa bei herzlichen Gastgebern in
Jugendherbergen. Gar nicht wie bei Krankenschwestern, die
Röntgenaufnahmen machen und in tranceartigem Trott Anweisungen leiern:
"Nicht atmen, bitteeeee." Nein, Sørensen und Köstler scheinen die
Menschen nicht nur wahrzunehmen, sondern sogar zu mögen.
Außergewöhnlich einladend.
Die SIGNA-Werkschau (Auswahl):
"Die Erscheinungen der Martha Rubin/The Ruby Town Oracle" (Köln, 2007)
"The Dorine Chaikin Institute" (Nordwind-Festival, Berlin, 2007)
"Nights at the Hospital"(Königliches Dänisches Theater, 2007)
"The Black Rose Trick" (Malmø, 2005)
"The Ultra Wedding" (Cordoba, 2005)
"Secret Girl" (Meininger Theater, 2004)
Gregor Schenker