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Nachtkritik - 03.10.2008
Ich und mein Hang zur Damenunterwäsche
Die Komplex-Nord-Methode – Eine neue Signa-Dauerperformance beim Steirischen Herbst in Graz

Vadim Rothmann heiße ich also plötzlich. Alle scheinen mich hier gut zu kennen. Fein, dass Du wieder da bist, erinnerst Du Dich an mich? Weißt Du, wie ich heiße, Vadim? – Man ist als Patient wirklich keine Nummer in Dorine Chaikins alias Signa Sørensens psychiatrischer Anstalt. Vadim Rothmann, noch mal. Und gleich noch mal, zum Einüben. Man ist hier spezialisiert auf Amnesiepatienten. 

Das eigene Gewand wird gegen Anstaltskleidung getauscht. Weißes Nachthemd, wahlweise vorne oder hinten zugeknöpft. "Herrenunterwäsche, oder wieder Damenunterwäsche, wie das letzte Mal?" fragt mich eine Schwester mit leiser Stimme. Verdammt, war da was? Was wissen die Leute über mich? Ich entscheide mich für die Herrenvariante, worin mich meine Betreuerin mit aufmunterndem Kopfnicken bestärkt.

Wo bin ich da überhaupt gelandet? Der "Komplex Nord", wo Dorine Chaikin alias Signa Soerensen das oberärztliche Regiment führt, ist eine geschlossene Anstalt. Ziemlich geschlossen jedenfalls. Zu- und Abgang zwei Mal täglich, 12 und 18 Uhr. Mindestverweildauer sechs Stunden. Besser: 18 oder 24 Stunden, vom 3. bis 12. Oktober beim "steirischen herbst" in Graz. 


Mehr Retro geht nicht 

Wie in den Produktionen des dänischen Künstlerkollektivs "Signa" üblich, ist ein Ambiente von sagenhaftem Detailreichtum aufgebaut. Die Möbel in diesem Spital müssen irgendwie den Krieg überstanden haben. Ur-Modelle des Schwarzweißfernsehers stehen in jeder Raumecke. Das alte Joanneum in Graz, einen Museumsbau aus der Gründerzeit, hat man vielleicht gar nicht sehr verändern müssen, um diese morbide Stimmung zu erzeugen. Anstaltsküche, Ärztezimmer, drei geräumige Schlaf- und zugleich Therapiesäle mit hohen Fenstern. Alles knapp vor dem Auseinanderfallen: Mehr Retro geht nicht. Das Personal trägt unsäglich altmodische Hornbrillen.

Die Sache mit der Damenunterwäsche lässt mir keine Ruhe. Nein, winkt der Arzt ab. Wenn er's mir erzählte, würde ich mir einen Reim auf seine Geschichten machen. Therapieziel ist es aber, dass ich selbst dahinter komme. In einem scheinbar unbewachten Moment spricht mich eine Schwester an. Ich möge doch nach der Entlassung dafür sorgen, dass sie Unterwäsche bekommt, rosafarben. Wie sollte ich? Ich war, so verrät sie, Geschäftsführer eines einschlägigen Geschäfts. Na, das ist ja schon mal was. 


Effekt des Eintauchens 

Viel Zeit vergeht mit Gesprächen, mit Gesellschaftsspielen, mit Gruppengesprächen. Nach dem Essen ein paar Gymnastikübungen, und dann werden die Aufgaben verteilt. Mich und zwei andere trifft der Küchendienst. Beim Abwaschen von gut dreißig Tellern, Kartoffelpürree-Topf und Sauerkrautpfanne ein erster Therapieerfolg: Lebhafte Erinnerung – an den Geschirrspüler daheim … "Signa" spielt Katz und Maus mit dem Publikum. Das Rollenspiel wird ausgedehnt, aus dem Mikro-Psychodrama wird maximales Erleben, im besten Fall: Verunsicherung, ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Wie ist es, wenn man einem System ausgeliefert ist, wenn man nicht mehr selbst entscheiden darf?

Die Welt der Psychiatrie beschäftigt die "Signa"-Leute seit gut anderthalb Jahren. "Die Komplex-Nord-Methode", in Graz als Uraufführung präsentiert, ist Abschluss einer Trilogie, die im Frühjahr 2007 mit "Night at the Hospital" im Keller des Königlichen Dänischen Theaters begonnen hat und mit "The Dorine Chaikin Institute" seine Fortsetzung fand. Viel weiter bin ich mit der Selbst-Amnesie nicht gekommen in diesen ersten sechs Stunden. Irgendwie hat sich der erwünschte Effekt des Eintauchens in eine ängstigende, bedrohliche Welt nicht eingestellt. Dazu sind alle viel zu nett und bemüht.


Leere Betten in der imaginären Psychiatrie

Es hängt vielleicht auch damit zusammen, dass am Uraufführungstag gerade mal ein Viertel der Station belegt war. Leere Betten in der imaginären Psychiatrie haben wohl ähnlichen Effekt wie freie Stuhlreihen im Theater: Das Stimmungsbarometer sinkt dramatisch. Dass "Signa" anderswo einen Hype hervorruft, dass diese Produktionen Kultstatus genießen und die Publikumsmeinung polarisieren – dies muss sich beim potentiellen Publikum in Graz wohl erst noch herumsprechen. Acht Tage Zeit sind ja noch.

Und die pulsierende Studentenstadt hat durchaus ein Reservoir an neugierigen Menschen. Signa Sørensen, der man so viel schauspielerische Intensität nachsagt, geisterte am Eröffnungstag streng dreinblickend, als irgendwie unnahbare Instanz durch die Szene. Womöglich habe ich die Chefarztvisite versäumt? Vielleicht benehme ich mich heute mal so recht daneben, damit ich als Patient "Chefsache" werde. Aber jetzt muss ich aufhören zu schreiben. Man soll ja, so steht es in der Patienteninformation, ausgeschlafen kommen. Kein Alkohol, keine Drogen. Wie man sich eben anständige Psychiatriepatienten wünscht.


Reinhard Kriechbaum






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