Neue Zürcher Zeitung - 17.10.2008
Vierzig Jahre alt und kein bisschen erwachsen
Das Musikprotokoll beim Steirischen Herbst in Graz
Fast könnte man denken, die Zeit sei hier stehengeblieben. Wer aus der
Grazer Jakoministrasse in die Räumlichkeiten des "Labors" eintritt,
findet eine Atmosphäre vor, die einen längst vergangenen Geist zu atmen
scheint. Wie bei einem improvisierten Treffen studentischer Bohemiens
führen Künstler und Szenegänger hitzige Diskussionen über die
Bedingungen zeitgenössischer Musik, über ihre mangelnde Resonanz in der
Gesellschaft und über die Suche nach Lösungen; einzelne Musiker
berichten feurig von ihren aktuellen Projekten, all dies eingetaucht in
dichten Zigarettenqualm. Nur das überdimensionale Rauchverbotsschild,
das wie vielerorts in Österreich geflissentlich ignoriert wird,
erinnert daran, welches Jahr geschrieben wird. Davon abgesehen hat sich
an der künstlerischen und gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung, aus der
heraus der Steirische Herbst und mit ihm das Musikprotokoll im Jahr
1968 entstanden waren, in den vergangenen vierzig Jahren im Grunde nur
wenig geändert. Im Gegenteil: Mehr denn je bieten die Programmmacher
Christian Scheib und Susanna Niedermayr ein weites Experimentierfeld
für zeitgenössische künstlerische Strömungen.
Dass bei manchen
der multimedialen Installationen, die einen wesentlichen Teil des
Programms bilden, die politische Botschaft bisweilen im Zentrum steht,
lässt sich schwer verdenken, wenn es beispielsweise um ein Projekt wie
"lost spaces" geht. Hier schickten Sebastian Meissner und Serhat
Karakayali die Besucher auf Schotter- und Waldboden ins Dunkle, wo
verborgene Mikrofone die unsicheren Schritte verstärken - in einem
Umfeld von Trümmern jener Moschee in Banja Luka, die serbische
Nationalisten 1993 zerstörten und die gerade wieder aufgebaut wird.
Frei von solchen direkten politischen Statements waren jene
Materialerkundungen, die in einem ironisch "Generalmusikdirektion"
benannten Ort durch das Duo "bonaNza" unternommen wurden;
"österreichische Musiktradition" wurde gesampelt, Schönbergs "Pierrot
lunaire" etwa drastisch zum Techno transferiert. Der norwegische
Elektronikkünstler Pl Asle Pettersen präsentierte in seinem Projekt
"komposisjoner", das er bereits seit einem Jahrzehnt entwickelt, zwar
eine reichhaltige Sammlung von computerbearbeiteten Geräuschen, blieb
allerdings einen grösseren Formverlauf jenseits der mit einem lässigen
Schluck aus seiner Bierflasche markierten Zäsuren schuldig.
Neben den alternativen Formaten konnte aber auch das konventionelle
Konzert seinen Platz im Programm behaupten. Neben dem exzellenten
Streichtrio EIS gastierte da zum Beispiel das Radio-Symphonieorchester
Wien im Stefaniensaal und widmete sich ausser der von repetitiven
Mustern geprägten "monadologie I" von Bernhard Lang sowie dem
verschwenderisch farbigen "Time Stretch (on Gesualdo)" von Bruno
Mantovani dem neuen Konzert für Klavier und Orchester des gebürtigen
Schweizers Beat Furrer. Darin geht es zunächst um den Klavierklang und
seinen Nachhall, der wie ein Schatten durch das Orchester geistert und
später mehr und mehr Eigenleben erlangt, aber auch um eine hochvirtuose
Motorik, die durch den Solisten Nicolas Hodges mit präziser Attacke
herausgemeisselt wurde.
Dass das Orchester unter der Leitung
von Pascal Rophe Furrers fragile Schwebungen, feinste klangliche
Abstufungen, die rasanten, aber fein ziselierten, nervösen
Bewegungsmuster phänomenal bewältigte, kann zurzeit allerdings beinahe
schon als kulturpolitisches Statement interpretiert werden. Denn
Bertrand de Billy, der Chefdirigent des Orchesters, hat Besorgnis über
dessen Zukunft geäussert, die Bestellung der neuen Managerin Christiane
Goller als "Missachtung des Orchesters" und als "Symbol der
Gleichgültigkeit" empfunden - und überhaupt mangelnden Rückhalt im
eigenen Haus beklagt.
Eine zunächst geplante Ausgliederung aus dem Österreichischen Rundfunk (
ORF)
ist bisher jedoch an internem Widerstand und öffentlichem Aufsehen
gescheitert. Gegenüber jüngsten Mahnungen des Österreichischen
Rechnungshofes, das Orchester "wirtschaftlicher" zu führen, antwortete
der
ORF, der Imageverlust durch eine
Ausgliederung würde die "ökonomischen Vorteile übersteigen". Allein die
Art, wie solche Diskussionen geführt werden, zeigt, dass sich die
Zeiten tatsächlich gewandelt haben. Aber während das
Radio-Symphonieorchester spielt, ist dies scheinbar alles vergessen.
Daniel Ender